■ Tomsk und die kriminelle Kaste der Atomexperten: Permanent gewaltbereit
Eine Sprecherin von Greenpeace hat erklärt, daß die Menge der Radioaktivität, die bei dem Unfall in der Atomwaffenschmiede des sibirischen Tomsk
freigesetzt wurde, um mehr als das achtzigfache
höher liege, als die russischen Behörden bislang eingeräumt hätten. Russische Experten hatten schon sieben Tage nach dem Unfall in der klandestinen Wiederaufarbeitungsanlage verkündet, die radioaktive Strahlung in der Nähe von Tomsk liege nur geringfügig über dem Niveau der natürlichen Strahlung. Greenpeace fordert jetzt nach diesen sich eklatant widersprechenden Angaben die Untersuchung des verstrahlten Gebietes durch eine unabhängige Kommission.
Als am 26. April 1986 der Reaktorblock IV des Atomkraftwerks von Tschernobyl durchbrannte und der größte Unfall der Atomgeschichte zunächst als „Havarie“ heruntergespielt wurde, hieß es noch entschuldigend, die russischen Behörden seien mit einer verantwortungsvollen, offenen Informationspolitik eben vollkommen überfordert. Jetzt, acht Jahre später, zeigt sich, daß sich der atomare Komplex Rußlands, einerlei ob er zivilen oder militärischen Interessen dient, den Forderungen nach Glasnost und Perestroika offenbar zu entziehen verstand. Die Demokratisierung Rußlands scheint an den Betreibern und Kontrolleuren der Atomanlagen spurlos vorbeigegangen zu sein. – Die verantwortungslosen Verharmlosungen, was das Ausmaß und die Gesundheitsgefährdung der Menschen rund um Tomsk anbelangt, bestätigen erneut Robert Jungks alte Analyse des Atomstaates. Eine nicht demokratisch kontrollierte Kaste von Atomexperten, die sich selbst kontrollieren soll, setzt die Wahrung des eigenen Rufes, die partikularen Interessen ihres Berufsstands und die quasi-religiöse Verehrung ihrer Technik über die Belange des Gemeinwohls. Die atomare Elite tritt zynisch das Recht auf körperliche Unversehrtheit der Anwohner von Atomanlagen mit Füßen.
Diese Mentalität ist nicht nur skandalös, sondern auch in hohem Maße kriminell; sie impliziert eine permanente Gewaltbereitschaft gegen Menschen und Umwelt. Letztlich handelt es sich um staatlich geförderte organisierte Kriminalität, eben um eine Mafia. Gleichzeitig gehört diese Mentalität des Verschweigens und Verharmlosens historisch und strukturell zur Atomtechnik, so wie die Brennstäbe zu einem Reaktor. Sie läßt sich nicht mit der Durchsetzung höherer Sicherheitsstandards bekämpfen, sondern nur mit der Stillegung der Expertenkaste und der Abschaltung der Atomanlagen; in Sibirien und anderswo. Michael Sontheimer
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