Todestour-betr.: "Todestour der 'Unbestechlichen', taz vom 18.3.91

Betr.: „Todestour der ,Unbestechlichen‘“ von Wolfgang S. Heinz, taz vom 18.3.91

Wenn man versucht, den Ursachen für Kriminalität und Gewalt, wie sie nicht nur bei Landkonflikten, sondern vor allem in den Millionenstädten Sao Paulo und Rio de Janeiro an der Tagesordnung sind, auf den Grund zu gehen, muß man sich einige historische, kulturelle und politische Wurzeln vor Augen halten:

Die brasilianische Geschichte ist immer eine Geschichte unter Gewaltanwendung gewesen insofern, als sich das Land nur in Abhängigkeit von außen entwickeln konnte und bis heute nicht autonom über sein Schicksal bestimmen kann. Dieser Fremdbestimmung entsprach im Innern eine Gesellschaft von Sklavenhaltern, die nicht nur die sozialen Beziehungen auf dem Lande, sondern auch in den großen Städten prägten (die Sklaverei wurde erst 1888 abgeschafft!). Die Situation der Sklaven in den Städten sah so aus, daß sie von den Herrschaften für zwei, drei Stunden am Tag geliehen wurden, um Wäsche zu waschen, Schuhe zu putzen oder schwere Lasten zu tragen. Im übrigen lebten und schliefen sie auf den Straßen. Es war Aufgabe der Polizei, sich um diese Menschen zu kümmern. Sie tat es unter Anwendung von Einschüchterung, Bedrohung, körperlicher Gewalt. Diese Tradition der Gewaltanwendung hat sich bis heute in großen Teilen der militärischen und zivilen Polizei bewahrt als einzige Sprache gegenüber den Bewohnern der favelas (Elendsviertel) und der armen Bevölkerung überhaupt, deren überwiegender Teil immer noch Schwarze sind.

Die brasilianische Gesellschaft ist eine Klassengesellschaft. Eine tiefe kulturelle Kluft trennt die herrschenden Klassen von den unterprivilegierten, abhängigen Bevölkerungsschichten. Die reichen Eliten waren und sind daran gewöhnt, daß es immer andere gibt, die ihnen zu Diensten stehen, nur bilden sie sich heutzutage ein, einen großen Gefallen zu tun, wenn sie ihren Portiers, Boten, Hausangestellten oder Kindermädchen den gesetzlich festgelegten Mindestlohn (das sind 80 DM im Monat!) zahlen. Es gibt Fälle, wo Hausangestellte nur gegen Kost und Logis, ohne einen Pfennig Lohn zu bekommen, in Familien arbeiten müssen. Neue Appartementhäuser werden immer noch mit separaten Aufzügen für das Dienstpersonal gebaut; die Zimmer, die man ihnen in den Wohnungen zuweist, sind in der Regel winzige, oft fensterlose Löcher. Auf Seiten der Abhängigen hat sich die Praxis des Stillschweigens herausgebildet als einzige Möglichkeit, unter solchen unwürdigen, gewalttätigen Bedingungen überhaupt weiterzuexistieren.

Auf der Weltrangliste der Staaten mit extrem hoher Einkommenskonzentration steht Brasilien an oberster Stelle, das heißt die Reichen werden immer reicher auf Kosten der Armen durch Korruption, Besitzanhäufung und Geldspekulation. Der Arbeit an sich wird keinerlei Wert beigemessen. So stelle man sich die Situation eines vielleicht 14jährigen Drogenhändlers in einer favela vor, der in zwei, drei Tagen das verdienen kann, was seine Eltern, die er jeden Morgen um fünf Uhr zur Arbeit gehen sieht, am Ende eines Monats mit nach Hause bringen.

Extrem niedriges Lohnniveau der breiten Massen, Ausschluß von der Teilhabe an politischer Macht, wachsender Analphabetismus, völlig mangelhaftes Gesundheits- und Erziehungswesen — sie sind Ausdruck tagtäglicher Gewalt des brasilianischen Gesellschaftssystems.

Die Kriminalität, die von den sog. Marginalisierten ausgeht, ist als sekundäre Gewalt, Ausdruck der Rebellion gegen soziale Ungerechtigkeit. Die herrschenden Eliten haben ein ureigenes Interesse daran, daß diese sozialen Konflikte auf der Ebene der gewalttätigen Auseinandersetzung zwischen korrupten Teilen der Polizei und Todesschwadronen einerseits und „Kriminellen“ andererseits ausgetragen und nicht auf die politische Ebene transferiert werden, weil nur so ihre Machtstellung im System erhalten bleiben kann. Dies ist der Grund, warum Polizei und Justiz, die selbst Teil der Eliten sind, scheinbar versagen, warum Regierung und Parteien sich nicht oder nur halbherzig dem brisanten Problem widmen. Ursula Grase, Berlin