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■ Die Wissenschaft von der WissenschaftThomas Kuhn brachte ein Weltbild ins Wanken

Im Alter von 73 Jahren ist am 20. Juni der US-amerikanische Philosoph Thomas Samuel Kuhn verstorben. Mit seinem 1962 erschienenen Werk The Structure of Scientific Revolutions hat Kuhn die wissenschaftstheoretische Debatte der letzten Jahrzehnte in neue Bahnen gelenkt. Das erstaunliche Echo, das Kuhn über die Reihen der Philosophen hinaus vor allem in den Kultur- und Sozialwissenschaften hervorgerufen hat, und die Debatte, die bis heute über seine Ideen geführt wird, machen deutlich, daß Kuhns Konzept selbst den Anstoß zu einer Revolution des Denkens gab. Erklärlich wird diese katalytische Wirkung, wenn man Kuhns Entwurf mit den etablierten Konzepten der klassischen Wissenschaftstheorie vergleicht.

Bevor Kuhn sein Werk über den revolutionären und sprunghaften Wandel wissenschaftlicher Theorien (gemeint waren naturwissenschaftliche) verfaßte, ging man im allgemeinen von einem stetigen, linearen Anwachsen des Wissens im Lauf der Zeit aus. Die wissenschaftliche „Rationalität“, das was Wissenschaft ist und wie sie arbeitet, schien „objektiv“ kennzeichenbar und – allen zeitlichen und gesellschaftlichen Einflüssen weitgehend enthoben – in einer rein logischen Form darstellbar. Kuhn hingegen löste sich aus dieser wissenschaftstheoretischen Einheitsfront heraus. Statt einer durchgehaltenen Traditionslinie erkannte er eine diskontinuierliche Vielheit von Theorien und Wissenschaftsformen, die sich im Laufe der Geschichte ablösen. Nach Kuhn nimmt jede dieser Wissenschaften die Welt in besonderer Weise wahr, ohne daß eine Kommunikation mit anderen Konzepten möglich ist. Das Ziel dieser isolierten Wissenschaftsgesellschaften ist es, eine Normalwissenschaft zu etablieren, deren spezifisches Selbstverständnis sowie deren besondere Spielregeln der Forschung über maßgebliche „Paradigmen“ geregelt sind. Nach Kuhns Entwurf existiert keine ewige „Wahrheit“ mehr, der sich die Wissenschaft im Laufe ihrer Entwicklung annähert. Wissenschaft ist vielmehr von einer Pluralität von Meinungen beherrscht, für die jeweils mit allen zur Verfügung stehenden ökonomischen und politischen Mitteln gestritten wird.

Durch Kuhns Brille betrachtet, hat sich das Bild von „der Wissenschaft“ vollkommen gewandelt. Nicht mehr ein auf festen Fundamenten ruhendes, im Laufe der Generationen Stück für Stück zusammengesetztes Bauwerk liegt vor uns, sondern quasi eine unendliche Anzahl von Zeltlagern, die beim Weiterziehen achtlos zurückgelassen werden. Die Kuhn- Debatte beruht somit letztlich darauf, daß man auf der Suche nach sicheren und verbindlichen wissenschaftlichen Wahrheiten unversehens auf ein Meer unverträglicher Alternativen stieß.

Die Schattenseite des Kuhnschen Entwurfs liegt in der Eröffnung einer relativistischen Beliebigkeit, in der Überbetonung der Formbarkeit wissenschaftlicher Daten. Die positive Bedeutung hingegen besteht zweifellos im emanzipatorischen Impetus und in der Skepsis gegenüber scheinbar fixen Wissenschaftsstandards. Kristian Köchy

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