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Thema Volksentscheide: taz-Leser wollen ihre Stimme nicht nur „abgeben“, sondern öfter und mehr mitbestimmenSehen Sie die Sache positiv

betr.: „Darf das Volk entscheiden?“ (Beitrag von Daniel Haufler), taz vom 4. 4. 00

[...] Ich frage mich, wie kommt Daniel Haufler überhaupt darauf, dass die gewählten Politiker kompetenter urteilen könnten als die Menschen draußen im Land. Diese Annahme entbehrt jeder Grundlage. Es scheint, wer heute mehr Rechte für „das Volk“ fordert, überfordert die Presse.

CHRISTIAN SCHMIDT, Manchester, England

[...] Sie führen Sozialhilfe und Spritpreise im letzten Teil Ihres Artikels auf, als wären das Argumente, einen Volksentscheid als etwas Lächerliches und vollkommen Absurdes darzustellen. Sehen Sie die Sache doch positiv: Ist es nicht denkbar, dass sich unsere Politiker wirklich gute Argumente ausdenken müssten und sich ins Zeug legen, ein Pro und Contra zu einem Volksentscheid zu geben ... und wäre es nicht schön, zum Beispiel über eine Pflicht von Betrieben abzustimmen, den Erziehungsurlaub zu gewähren und nicht nur das Recht auf Erziehungsurlaub. [...]

TH. FECHNER, Neuwied

[...] Die Realität ist doch, dass wir ein System haben, in dem eine relativ kleine Elite verbindliche Entscheidungen trifft. Wie soll denn nun ein Volksgesetzgebungsverfahren aussehen, welche Themen sollen direkt entschieden werden? Diese Frage ist relativ einfach zu beantworten: Grundsätzlich sollen die Menschen über alles selbst abstimmen, was auch ihre gewählten Vertreter entscheiden dürfen. Lediglich die vorherige Sammlung von einer relativ hohen Zahl von Unterschriften begrenzt die Themen automatisch.

Tatsächlich stimmt es, dass die Menschen draußen im Land nicht kompetenter urteilen können als die Politiker. Jedoch: Das auf Diskussion und Entwicklung angelegte Verfahren einer Volksgesetzgebung gewährt, dass Themen wesentlich sachorientierter behandelt werden als im bestehenden Parteienstaat. Egal, ob das Parlament durch eine Volksinitiative eine Anregung bekommt und dadurch ein Thema behandelt, das sonst nicht in die Diskussion geraten wäre, oder ob nach einem darauf folgenden erfolgreichen Volksbegehren die Menschen alternativ über den Vorschlag der Initiatoren und den des Parlaments abstimmen: Die Sache rückt in den Mittelpunkt, die Orientierung an Parteien und Politikern dominiert nicht mehr.

[...] Direkt betroffen sind die Menschen in Deutschland viel mehr von derBundesgesetzgebung als von der Kommunalpolitik. Steuergesetzgebung, Rentenpolitik und Arbeitnehmerrechte berühren die meisten Menschen wesentlich mehr als der Bau einer Umgehungsstraße im anderen Stadtbezirk. Will man Menschen an den Dingen beteiligen, die sie persönlich am meisten betreffen, ist die Bundesgesetzgebung eindeutig der richtige Bereich.

Eine Überforderung des Volks ist bei einer angemessenen Ausgestaltung der Volksgesetzgebung auf Bundesebene nicht zu befürchten. Der derzeitige Zustand dagegen bedeutet eine Unterforderung des Volks, und dies kann gefährlich sein. Adolf Hitler hatte nicht Unrecht, als er sagte, dass es für die Regierungen gut sei, dass die Menschen nicht denken würden. Wenn auf Bundesebene alle Verantwortung auf wenige Politiker übertragen wird, ist dies nicht gerade ein besonders guter Schutz gegenüber Diktaturen.

BERND KLOTZ, Bonn

In 50 Jahren rein repräsentativer Demokratie in Deutschland gab es nicht eine einzige Abstimmung auf nationaler Ebene und außerhalb Bayerns ganze zwei von der Bevölkerung selbst initiierte Volksentscheide in den Bundesländern. Und auf Gemeindeebene stimmen die Bürger im Schnitt alle paarJahrzehnte einmal über eine Sachfrage ab. Es ist also überhaupt nicht weit her mit der demokratischen Mitbestimmung der Bevölkerung. Warum soll denn nicht das Volk über den Ausstieg aus der Atomenergie abstimmen, wie die Schweden, Österreicher, Schweizer und Italiener es auch getan haben? Ich jedenfalls habe überhaupt nicht das Gefühl, in einer „einwandfrei funktionierenden Demokratie“ zu leben.

MICHAEL EFLER, Hamburg

[...] Meine konkrete Erfahrung ist, dass BIs nach allen Regeln der Macht auch und gerade auf kommunaler Ebene abgemeiert werden.

Eine völlige Verdrehung der Tatsachen ist es jedoch, wenn davon gesprochen wird, dass es auf Landesebene die MÖGLICHKEIT von Volksbegehren und Volksentscheiden gibt. [...] Es ist eine glatte Lüge, dass in Bayern zuletzt über eine Schulreform abgestimmt wurde.

Wegen des hohen Quorums von zehn Prozent ist die Initiative beim Volksbegehren gescheitert. Doch damit nicht genug: Weil sich die jeweiligen Regierungsparteien der Überzeugungskraft der Argumente für direkte Demokratie nicht mehr erwehren können, werden Volksbegehren jetzt gar nicht mehr zugelassen. Die von den regierenden Parteien dominierten Verfassungsgerichte geben dazu auch noch ihren Segen, egal wie fadenscheinig und an den Haaren herbeigezogen die Begründung auch sein mag. Das ist die Realität in Bayern, in Berlin, in Bremen und in Baden-Württemberg. Und in allen anderen Bundesländern sind die Hürden so hoch, dass gültige Volksentscheide praktisch unmöglich gemacht werden. Und selbst wenn den Mächtigen aus Versehen mal ein gültiger Volksentscheid durchwitscht, wird „nachgekartet“ und „nachgebessert“, bis hin zu völligen Aufhebung des Volksentscheids durch Parlamentsbeschluss. So geschehen in Schleswig-Holstein und Bayern. Hier von MÖGLICHKEIT zu sprechen, kann bestenfalls im rechtlichen Sinne gemeint sein, praktisch kann sich das Volk in seinen Mitspracherechten auf Landesebene nur verarscht vorkommen. [...] CARSTEN SCHOLVIEN

Die Redaktion behält sich den Abdruck sowie das Kürzen von Briefen vor. Die erscheinenden LeserInnenbriefe geben nicht notwendigerweise die Meinung der taz wieder.

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