Theatermusik-Komponist: Kontrapunkt der Angst
Er hat für Christoph Schlingensief komponiert und er liebt Freejazz und den elektronischen Krach: der Komponist und Schlagzeuger Michael Wertmüller. Ein Portrait.
Für den in Berlin lebenden Komponisten und Schlagzeuger Michael Wertmüller ist musikalische Energie nicht zwangsläufig gleichbedeutend mit Kraft. "Energie ist auch mental. Sie kommt auch an wahnsinnig leisen Stellen zum Vorschein." Das klingt überraschend für einen Schlagzeuger, der bekannt ist für sein brachiales und anspruchsvolles Spiel. Hintern den Drums nimmt Michael Wertmüller das Temperament eines Faustkämpfers an.
Nun hat Wertmüller für Christof Schlingensiefs Stück "Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir", das am Freitag das Theatertreffen in Berlin eröffnen wird, die Musik komponiert. Ohrenbetäubender Schlagzeugkrach steht da neben leise wabernden Orgeltönen, Zuspielungen aus Wagners "Parzival" und Mahlers "Liebestod" neben einem afrikanischen Gospelchor. Zwei Sopranistinnen singen Material von Schönberg und Wertmüllers eigene Kompositionen kommen hinzu: All das ist auf raffinierte Weise miteinander synchronisiert. "Kontraste sind für mich selbstverständlich", sagt Wertmüller, "oftmals gibt es das Missverständnis, Energie gleich Lautstärke. Intensität steckt auch in extrem ruhiger und gleichförmig fließender Energie, quasi im Nichts. In meiner Theatermusik gibt es extrem leise Stellen. Und trotzdem ist da ein Energiefluss spürbar, es brodelt etwas. Das muss nur nicht direkt nach außen gehen."
Man kennt den 42-jährigen Schweizer als Drummer der Avantgarde-Metal-Band Alboth. Zusammen mit dem Kölner Musiker Thomas Mahmoud (ehemals bei Von Spar) betreibt Wertmüller auch das Elektronik-Krachprojekt Ives#1. Seit annähernd 20 Jahren spielt er als Schlagzeuger schließlich immer wieder zusammen mit dem Freejazz-Saxofonisten Peter Brötzmann. Zahlreiche Alben sind in verschiedenen Konstellationen mit Brötzmann bereits entstanden.
Am nächsten steht Wertmüller eigentlich der Neuen Musik. Von ihm komponierte Werke, wie "Das Zimmer", oder "Entleibung" wurden bereits an Festivals von Donaueschingen bis zur Berliner "Märzmusik" aufgeführt. Wertmüller hat eine klassische Musikausbildung am Piano und am Schlagzeug durchlaufen, in Bern, Amsterdam und Berlin studiert. Er war auch als Schlagzeuger in Symphonie-Orchestern beschäftigt, "bis es mir zu langweilig wurde, im Orchestergraben zu hocken. Das Gute ist, man hat dabei viel Zeit, kann sich einen Eindruck machen, wie die einzelnen Instrumente miteinander zusammenhängen." Zeit ist für Wertmüller kein relativer Begriff. Seine Stücke haben extrem komplexe Zeitstrukturen, die den Musikern hohes technisches Können abverlangen. Die Musiker müssen seine Kompositionen auch körperlich transportieren, fordert er.
Wertmüller selbst spielt auf dem Schlagzeug Septolen mit derart traumwandlerischer Sicherheit, dass das Auftauchen eines normalen Viervierteltakts wie ein Schock wirke, schrieb sein Professor Dieter Schnebel einmal über ihn. "Meine Kompositionen leben von Polymetriken und Polyphonien. Das ist mein Ding. Es hat mit dem Aufbau der Drums zu tun. Es gibt vier Schlagzeugkomponenten, die man gleichzeitig spielen kann, mit denen spiele ich auch gerne gleichzeitig. In meinen Kompositionen stecken auch immer verschiedene Ebenen, die gleichzeitig laufen."
Von außen betrachtet wirkt dieses Gewirbel genialisch, undurchschaubar. Der Künstler selbst stellt das Vulkanische seiner Begabung aber in Abrede und betont die Konstruiertheit. "Es handelt sich bei meiner Musik meistens um eine pure technische Angelegenheit. Auch wenn ich komponiere, will ich etwas herausfinden, verrückte Kombinationen, Verhältnisse oder Proportionen. Sowohl tonal, als auch rhythmisch. Ich gehe durch die Gegend, dann kommen mir Ideen. Ich konstruiere das dann ganz kühl, um nicht zu sagen eiskalt. Wenn ich das mache, kriege ich schon Emotionen, aber die Basics sind Tonreihen, die einfach dastehen."
Geprobt wurde "Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir" letztes Jahr in Duisburg, in über fünf Wochen, immer in Absprache mit Schlingensief. Wertmüller kam mit einer Skizze und entwickelte die Komposition zusammen mit den Musikern. Das Stück handelt von der Krebserkrankung des Regisseurs. Die Krankheit impliziert Schwäche, Auszehrung, sie führt oftmals zum Tod. Der Kampf dagegen erfordert gewaltige Anstrengungen. Wertmüllers Musik feiert den Rhythmus, sie ist kraftvoll, bemächtigt sich immer wieder auch der Dramaturgie des Stücks, unterbricht die Handlung, wechselt ansatzlos Tonarten und hüpft dem Teufel der Festlegung zwischen E- und U-Musik grinsend von der Schippe. "Ich verstehe das im Ganzen als Kontrapunkt. Als Hoffnung, als ein Stück Energie, die das Ganze dann wieder belebt."
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