Theatermacher Michael Batz: "Erschossen in den Wäldern"

Im Auftrag des Hamburger Senats hat Michael Batz ein Theaterstück geschrieben über die Juden, die ins Rigaer Ghetto wie auch ins nahe gelegene KZ Jungfernhof deportiert wurden. Wesentlich gestützt hat er sich dabei auf Prozessakten aus dem Jahr 1977.

Der Theatermacher und Lichtkünstler Michael Batz. Bild: dpa

taz: Herr Batz, wie viele Juden aus Norddeutschland wurden vom NS-Regime ins Rigaer Ghetto deportiert?

Michael Batz: Aus Hamburg stammten 753 Personen. Der Zug wurde am 6. 12. 1941 auf dem Güterbahnhof Hamburg-Altona zusammen gestellt und dann nach Bad Oldesloe geführt. Dort kamen weitere 220 Menschen aus Lübeck, Kiel und anderen Städten Schleswig-Holsteins hinzu.

Welche Rolle spielte das Rigaer Ghetto in der deutschen Deportationspolitik?

war von 1990 bis 1994 Dramaturg an der Internationalen Kulturfabrik Kampnagel in Hamburg. Seither ist er freier Theatermacher und Lichtkünstler. Er verfasst regelmäßig Stücke, die den Holocaust zum Thema haben.

Riga war dafür ursprünglich gar nicht vorgesehen, man dachte eher an Städte wie Minsk und Lódz. Dann zeigte sich, dass Minsk nicht zur Verfügung stand: Die Wehrmacht hatte angesichts der sich abzeichnenden Niederlage vor Moskau Protest angemeldet, sodass man nach Riga auswich. Dessen Ghetto, das ja schon 1941 gegründet worden war, war allerdings überfüllt. Dort lebten 30.000 lettische Juden. Die SS erschoss sie, um Platz für deutsche Juden zu schaffen. Trotzdem blieben Platzprobleme. Deshalb kamen die Hamburger nicht ins Ghetto, sondern ins KZ Jungfernhof. Das war ein landwirtschaftliches Gut, das die SS beschlagnahmt hatte. Dort gab es zwei große Scheunen ohne Heizung und sanitäre Anlagen. Das alles bei minus 40 Grad Celsius.

Wer waren die nach Riga deportierten Hamburger?

Die meisten waren Akademiker - zum Beispiel Lehrerinnen, die an jüdischen Schulen gearbeitet hatten. Das Durchschnittalter der Menschen lag bei 48 Jahren. Überlebt haben die wenigsten: Nur 35 Personen sind von diesem Transport zurückgekehrt.

Wonach wurde entschieden, wer nach Riga kam?

Kriterien sind nicht erkennbar.

Wie waren die Lebensbedingungen im Lager?

Bei der Ankunft auf dem Bahnhof Skirotava wurden einige Menschen, die nicht schnell genug aus dem Zug herauskamen, sofort erschossen. Anschließend machte die SS ihr übliches Angebot: Ihr könnt zu Fuß zum Lager gehen - oder aber die Autos nehmen. Viele der Älteren haben die Autos gewählt. Sie wurden sofort in den nächsten Wald gebracht und erschossen. Die übrigen fanden im Lager Jungfernhof zunächst einmal gar nichts vor. Sie mussten auch nicht sofort arbeiten, sondern saßen oder lagen in den ersten Wochen in ihren Kojen, weil die SS damit überfordert war, mit diesen Menschenmengen umzugehen.

Warum hatte SS-Einsatzgruppenführer Walter Stahlecker überhaupt nach Berlin gemeldet, dass es in Riga Platz für Deportierte gäbe?

Das geschah wohl aus einer Karriere-Überlegung heraus. Stahlecker wollte sich durch vorauseilenden Gehorsam qualifizieren. Er wird als extrem ehrgeiziger Mensch beschrieben, der Rekordzahlen präsentieren und als Erster ein judenfreies Gebiet vorweisen wollte.

Dann gab es die "Aktion Dünamünde".

Ja. Das war eine vom SS-Obersturmführer Gerhard Maywald initiierte Aktion, bei der im März 1942 mindestens 1.500 Personen aus dem Rigaer Ghetto und dem KZ Jungfernhof in nahen Wäldern erschossen wurden - unter anderem der letzte Hamburger Oberrabbiner Joseph Carlebach, seine Frau und seine drei Töchter. Nur sein Sohn hat überlebt.

War das Rigaer SS-Personal besonders verrufen?

Die SS hatte natürlich nicht nur dort einen schlechten Ruf. Im Rigaer Ghetto tat sich vor allem der schießwütige Kommandant Krause hervor. Am gefürchtetsten war allerdings SS-Sturmbannführer Rudolf Lange, der das KZ Salaspils mit aufgebaut hatte. Er hat bei jeder Gelegenheit sofort geschossen und wollte persönlich dazu beitragen, dass es möglichst schnell keine Juden mehr gab. Es gab allerdings Spannungen zwischen SS und den Gebietskommissaren der zivilen Verwaltungsstruktur in den Ostgebieten: Die SS erschoss auch Menschen, die arbeitsfähig waren. Die brauchte man aber dringend in den Zulieferbetrieben für die Wehrmacht. Riga war Schneiderei und Wäscherei der Wehrmacht. Auch die Logistik der Wehrmacht für den russisch-lettischen Bereich wurde über Riga koordiniert.

Gab es in Lettland besonders viele Kollaborateure?

Ja. Die SS konnte hier auf einen lettischen Nationalismus zurückgreifen, der stark antisemitisch war. Pogrome anzuzetteln war deshalb kein Problem. Vikitor Arajs war der bekannteste Kollaborateur. Er war maßgeblich an den Massenerschießungen im Rigaer Ghetto beteiligt. Fest steht, dass die Judenvernichtung dort ohne die lettischen SS-Leute und Hilfsmannschaften nicht funktioniert hätte.

Aus welchen Quellen speist sich Ihr Stück "Nach Riga", das nun in Hamburg aufgeführt wird?

Die wichtigste Quelle war das Konvolut aus dem Prozess gegen SS-Obersturmführer Gerhard Maywald, der das KZ Salaspils leitete. Er wurde 1977 zu einer Gefängnisstrafe von vier Jahren verurteilt. Im Zuge der Vorermittlungen entstanden etliche Zeugenaussagen.

Was erzählen diese Menschen?

Vor allem, dass sie nicht begreifen, warum sie Kälte, Hunger, Krankheit und Selektionen überlebt haben. Und dass es trotz allem im Lager einen starken Überlebenswillen gab. Joseph Carlebach etwa muss eine regelrechte Lichtgestalt gewesen sein. Er stellte einen Lehrplan auf und versuchte zumindest in den ersten Monaten, so etwas wie Unterricht zu geben.

Wie lange glaubten, den Quellen zufolge, die Menschen denn noch, dass sie zum Arbeiten in den Osten gebracht wurden?

Bis zur Ankunft im Lager. Als sie am 9. 12. 1941 in Riga ankamen und sofort mit Gewehrschüssen, Kolben- und Peitschenschlägen, Stockhieben und Erschießungen konfrontiert wurden, war ihnen klar, dass sie nicht zur Arbeit hergekommen waren.

Warum nicht schon früher?

Vielleicht wollten sie es glauben. Zumindest die Hamburger waren vor der Deportation zivil behandelt worden. Mehrere Zeugen bestätigen, dass es hier keine Ausschreitungen der Gestapo gab. Es wurde nicht gebrüllt oder geschlagen, sondern man hat ihnen ganz vernünftig gesagt, sie sollten sich bereit machen. Und dann sitzt man zwar in diesem Zug, darf nicht raus, und da steht nur ein Eimer in der Ecke. Aber es deutet nicht darauf hin, dass man in den Tod fährt. Denn warum hätten die Nazis dann diesen Aufwand treiben sollen?

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