Theater: Fotografiere deine Wunden
Kunst aus Haut und Knochen: Theaterautor Mark Ravenhill - berüchtigt seit "Shoppen und Ficken" - präsentiert in München sein neues Stück.
G egensätze wie Subjekt und Objekt, Kunst und Leben, Ästhetik und Grauen liegen oft nur einen Sprung voneinander entfernt. In Mark Ravenhills neuem Künstlerdrama "pool (no water)" setzt sich Sally mit einem einzigen Sprung ins Leere genau über diese Grenzen hinweg: Vor den Augen von vier Kollegen stürzt sie sich kopfüber in ein Betonschwimmbecken, das sie als Zeichen ihres beruflichen Erfolges in ihren Garten eingraben ließ.
"Mitten auf dem Beton ihr Körper verdreht und zerquetscht und zerschmettert und ihr Geräusch jetzt ein Tier, nichts mehr von Gott oder Engel", konstatiert einer der Beobachter entsetzt; keine Person ist sie mehr, nur Fleisch im eigenen Blut, ein scheinbar entmenschlichter Haufen aus Haut und Knochen. Ausgerechnet sie, die doch selbst berühmt geworden ist mit Fotografien eines Aidskranken, durch "Blut und Verbände und Katheter und Kondome". Und so entwickeln die Kollegen noch am Unglücksort eine monströse Idee: Den Prozess von Sallys Heilung dokumentieren sie akribisch, halten Farben und Geräusche fest, fotografieren ihre Wunden mit großer Leidenschaft.
In "pool (no water)" hinterfragt der britische Theaterautor Mark Ravenhill das Milieu der Kunst und eines Modells von Erfolg, von dem er selbst Teil ist. Er zeigt wie gewohnt eine Gesellschaft, deren Zersetzung zu weit fortgeschritten ist, um sie noch zu bremsen. Neid und Missgunst, Selbstmitleid und Zerstörung treiben seine Protagonisten an. Hilflos unterliegen sie dem Können einer offensichtlich begabteren Freundin, ihr eigenes Leben erscheint ihnen dagegen sinnlos: "Essen. Schlafen. Kacken. Wichsen. Wieder von vorn."
Sein bislang bekanntestes Werk lieferte der 1966 geborene Ravenhill bereits in seinen Dreißigern ab: Mit "Shoppen und Ficken" (1996) wird er über Nacht zur Frontfigur einer damals neuen britischen Theaterszene, die das Publikum durch eine besonders explizite Sprache und durch drastische Themen aufzurütteln suchte. In dem Stück lässt er Großstädter zwischen Krankheit und Konsum hin und her irren, verloren zwischen absurden Sexfantasien und ihrer Umsetzung. Aidskranke und Missbrauchsopfer, Masochisten und Romantiker prallen aufeinander. Sinn und Erfüllung erleben Ravenhills Protagonisten nicht im Zwischenmenschlichen - zuletzt zählt nur die ganz harte Materie, das Bargeld.
Und so vollzieht sich auch in "pool (no water)" eine überraschende Wendung: Schrittweise begreifen die alternden Künstler, dass sie die Kollegin nicht mal im Todeskampf übertreffen können. Sally, die nur noch aus "Schreien und Weinen und Zucken" zu bestehen schien, hat nach wie vor alle Fäden fest in der Hand. Die skrupellose Natur der Freunde völlig richtig einschätzend, hat sie die entstehenden Fotografien in ihr "Happening" einkalkuliert - und längst ihrem eigenen Galeristen versprochen. Selbst als die unfreiwilligen "Assistenten" alle Fotografien in einem orgiastischen Rausch vernichten, sich an Grausamkeit noch einmal selbst übertreffen, kommentiert Sally gelassen: "Ich bin die Einzige von euch, die stark genug ist, zu leben, und nichts, was ihr tut, kann mich je zerstören. Also schreibt mir bitte dann und wann und erzählt mir von euren kleinen Leben."
Auch in seinen Kolumnen, die im Guardian erscheinen, wütet Ravenhill gegen die Welt an. Gegen die Globalisierung im Allgemeinen und gegen England im speziellen, gegen die Conditio humana des 21. Jahrhunderts und insbesondere gegen den unglücklichen Umstand, dass mit dem vierzigsten Geburtstag zwar nicht die Weisheit oder das Verstehen der Welt zunehmen, wohl aber das innerliche Toben eine ganz neue Dimension erreicht.
Anfang Mai inszenierte Matthias Hartmann die deutsche Version von "pool (no water)" erstmals am Schauspielhaus Zürich, in der Deutschlandpremiere in München versucht sich nun der junge Regisseur Florian Boesch am Spiel mit zynischen Überbietungsfantasien. Wie Hartmann setzt Boesch auf knallige Effekte: Statt Sally platzt im Moment des Sprunges ein weißer Ballon. Rote Farbe rinnt satt aus einem Kinderplanschbecken. Ein Stroboskop erzeugt hektisch flimmernd Spannung. Flitter ergießt sich über das Publikum.
Die im Stück als gleichberechtigt angelegten Künstlerfiguren A, B, C und D rückt Boesch abwechselnd in den Vordergrund. Etwa, wenn der hervorragende Michael von Au als entblößter Jesus an eine Leinwand genagelt wird, wo er - mit Affenmaske, die Genitalien zwischen die Schenkel geklemmt - zu heiterer Musik ein kurzes Solo trällert. Oder wenn sich eine atemlose Sophie von Kessel die prallen silbrigen Leggings mit Sallys Blut besudelt und das ausliegende Bühnenkoks gleich kiloweise durch das schmale Näschen zieht. Der zum Schlussapplaus auf die Bühne geholte Ravenhill dankt ihr das meisterliche Spiel mit einem Zungenkuss.
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