Theater vor dem Aus: Übrig bleibt ein einziger Scherbenhaufen
Das "Theater Zerbrochene Fenster" macht nach 23 Jahren dicht. Der Gründer Arne Baur-Worch schmeißt den Büttel hin, bevor er zwangsweise insolvent geht. Was ihn besonders ärgert: Junge Theatermacher bekommen viel mehr öffentliche Gelder als er.
Hinweisschilder müssen korrekt sein. Der Wegweiser "Theater Zerbrochene Fenster 200 Meter" ist es aber nicht mehr: Die Kreuzberger Spielstätte in der Fidicinstraße schließt am Freitag nach fast 23 Jahren ihre Türen. Der Senat wird das blaue Schild abmontieren müssen; Schraubenzieher kann er sich bei Arne Baur-Worch leihen. Der Gründer des Theaters Zerbrochene Fenster (TZF) hat genügend Werkzeug, im bereits leeren Bühnenraum rangelt er gerade verbal mit einem Zeitungsfotografen. Der 58-Jährige will sich partout nicht als desillusionierter Mann fotografieren lassen, der einem Vierteljahrhundert Theatergeschichte nachweint. Der grau melierte Intendant trägt olivgrüne Cordhosen und ist von selbst gedrehtem Zigarettendampf heftig umwolkt.
"Wütend bin ich nicht", sagt Baur-Worch recht wütend, später wird er sagen: "Das ist ein Skandal." Und doch kommentiert er die Schließung seines Hauses pragmatisch: "Ein Lebensabschnitt ist vorbei, und jetzt kommt ein neuer. Ich akzeptiere, dass die Stadt Berlin das TZF eben nicht mehr will." Seit 1993 erhielt die 900 Quadratmeter große Spielstätte "unterschiedlich angemessene" Fördergelder vom Senat, zuletzt 55.000 Euro jährlich. Eine Mietsteigerung um 14.000 Euro aus dem Jahre 2006 wurde durch den Senat zunächst abgefedert, jetzt erhöhten die privaten Vermieter die Kosten um weitere 40.000 Euro pro Jahr, "und es ist illusorisch zu glauben, dass solch geringe staatliche Zuwendungen ausreichen", sagt Baur-Worch. Zwar sei die bisherige Miete fair gewesen, doch habe es innerhalb der Vermieterfamilie einen Generationswechsel gegeben. Die neuen Besitzer wollten nun partout höhere Abschläge.
Weil die Stadt auf die Kostenerhöhung nicht reagierte und es vermutlich keine weiteren Subventionen gegeben hätte, schloss Baur-Worch sein Haus eigenmächtig. Rechtzeitig bevor er womöglich Privatinsolvenz hätte anmelden müssen, rechtzeitig vor einer würdelosen Zwangsschließung: "Ich wollte den Zeitpunkt für das Ende selber bestimmen, ohne Resignation." Er hat seinen Stolz behalten. "Für mich ist die Sache erledigt, den emotionalen Blues verschiebe ich auf später." Und dann wird Baur-Worch wieder laut und dröhnend: "Das hier ist kein Trauermarsch!"
Und noch etwas regt ihn auf: Als das TZF vor Wochen sein Inventar verkaufte, standen die Leute auf einmal Schlange und griffen billig alte Kinosessel und Kostüme ab. "Plötzlich sind alle gekommen, die nie dagewesen sind." Baur-Worch will nicht "Leichenfledderer" sagen, gedacht hat er es offenbar. In den letzten Jahren kamen durchschnittlich 45 Zuschauer pro Vorstellung in das TZF. Aber als das Theater Zerbrochene Fenster vor kurzem seine letzte Vorstellung gab, einen mit lauten E-Gitarren inszenierten "Michael Kohlhaas" der studentischen Gruppe "Aufgezogen - Ausgezogen", kamen sie dann noch mal, die vielen alten Freunde, und feierten Abschied. Dass das Aus für Baur-Worch schmerzhaft ist, kann man wohl vermuten, sagen tut ers nicht, Mitleid will er erst recht nicht.
Um seine ruppigen und gleichzeitig herzlichen "Donnerwetter"-Reden zu umschiffen, fragt man ihn dann unverfänglich, was denn eigentlich "Zerbrochene Fenster" bedeutet? "Hah!", ruft der Intendant und es fehlt nur noch, dass er mit der Faust auf den Tisch schlägt: "Das haben mich schon viele gefragt, und keiner hat eine Antwort bekommen!" Überhaupt die Presse. Auf einmal rufen Journalisten an und wollen einen Interviewtermin. Leute, für die der Wegweiser auf der Straße gedacht ist, weil sie nie das TZF betreten, keine Premiere rezensiert hätten, und nun im Schnellverfahren wissen wollen, wie es in den letzten 23 Jahren "denn so war"?
Ja, wie war es denn? Auf jeden Fall gut. Die Gründung einer eigenen Spielstätte erfüllte einen Lebenstraum, wenn man das so pathetisch ausdrücken mag. Baur-Worch ist gebürtiger Hamburger, Intendant, Regisseur, Schauspieler und Schauspieltrainer zugleich, und er ist vor allem Autodidakt. Seine "freie Ausbildung" hat er sich in Paris und New York zusammengewebt. Nach zehn Wanderjahren reifte in ihm der Wunsch nach einer eigenen Spielstätte, und er entdeckte passende Räume in einem Kreuzberger Gewerbehof für einen schmalen Taler. 1986 eröffnete das TZF.
Am Anfang wurde es vom eigenen Ensemble bespielt, bis 1993 gab es hierfür individuelle Förderung vom Senat, danach nur noch Gelder für die Spielstätte als Ganzes. Von Beginn an etablierte sich das TZF als "optimale Plattform" für die freie Szene. Optimal deshalb, weil es über variable Räumlichkeiten mit eigenem Trainingsraum sowie umfangreiche Technik verfügte. Zehn bis 15 Gruppen gaben jährlich bis zu 200 Vorstellungen, darunter das Theater Affekt mit Goethes Singspiel "Lila", für das es 1995 den Friedrich-Luft-Preis erhielt. Im TZF wurde "Nepal" des bekannten Schweizer Autors Urs Widmer aufgeführt, traditionelles Jugendtheater stand neben "interaktivem" Theater, die Berliner Gruppe Antigone 2.0 etwa integrierte die Zuschauer per Livechat. Stets vertrat das TZF das Motto "Raum für Schauspielformen".
Persönliche Highlights aus der TZF-Historie kann Baur-Worch spontan nicht benennen. Dafür wettert er leise donnernd über den Generationswechsel, den die freie Theaterszene erfasst hätte: "Die Spielsequenzen werden kürzer, es bleibt kaum noch Zeit für den Genuss, stattdessen reißt man die Kulissen ein, die man eben noch installiert hat." Auch die Ansprüche einzelner Bühnentrupps an das TZF als "Miettheater" wären mitunter unerfüllbar hoch, fast dreist geworden - Probleme von gestern. Jetzt sind die TZF-Gastgruppen erst mal heimatlos.
Auffangen müssen wird sie vor allem das Theaterforum Kreuzberg in der Eisenbahnstraße. Gemeinsam mit dem im November wiedereröffnenden Ballhaus Naunynstraße ist es fortan das einzige "freie" Kleintheater im Kiez. Das Ratibor-Theater wird unterdessen von einem festen Ensemble bespielt. "Den Andrang der Theatermachenden spüren wir schon jetzt, wir haben aber keine Kapazitäten", bedauert Theaterforum-Intendantin Anemone Poland. Das Aus des TZF empfindet sie als "bittere Amputation" innerhalb der Kulturszene Berlins und Kreuzbergs sowieso. Anders als das TZF habe ihr Haus das Glück, seine Grundkosten mittels Mieteinkünften aus Immobilienbesitz decken zu können. "Wenn wir auf öffentliche Gelder angewiesen wären, dann würde es uns längst nicht mehr geben", sagt Poland.
Das TZF war dagegen immer auf die öffentliche Hand angewiesen, auch wenn man sich um Privatsponsoren bemüht hat. "Ärgerlich ist, dass für ein renommiertes Traditionshaus der Vorhang fällt, während neue Projekte hohe Summen bekommen", sagt Baur-Worch. Er meint das Ballhaus Ost in Prenzlauer Berg, das kurz nach seiner Gründung 2005 von der Stadt 100.000 Euro erhielt. "Früher mussten sich Spielstätten erst mal beweisen, bevor sie überhaupt förderungswürdig waren", hält Baur-Worch dagegen. Das TZF sei 20 Jahre älter und habe nur die Hälfte der Summe erhalten. "Das!", dröhnt der Intendant, "ist der eigentliche Skandal!" Der Generationswechsel also.
Und doch ist Baur-Worch den Newcomern der Theaterszene einen entscheidenden Schritt voraus: Er hat ein Vierteljahrhundert lang viel beachtete Kreuzberger Theatergeschichte geschaffen, die ihm keiner mehr nehmen kann. Obwohl die zerbrochenen Fenster finanziell jetzt tatsächlich zerbrochen sind, gibt der Intendant sich optimistisch: "Die Spielstätte stirbt, es lebe das Theater!" Bevor zukünftige Projekte beginnen, wird er sich etwas Ruhe gönnen, vielleicht kommen dann auch der emotionale Blues und die Nostalgie der Erinnerung.
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