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„Textpocken“ — nicht weiter tragisch!

■ Epistemologisch wertvoll: Eine Geschichte der Ursprünge der Fußnote

„Die tragischen Ursprünge der deutschen Fußnote“ lockt es den Leser vom Titelblatt. Die deutsche Fußnote – tragisch? Das Buch selbst wirkt in seinen Pastelltönen eher brav, vielleicht etwas overdesigned.

Schlägt man es auf, ist den Fußnoten nicht nur ein Drittel jeder Seite vorbehalten, es ist in dem „spekulativen Essay“ auch viel über die sich wandelnde Funktion der Fußnote zu erfahren. Leopold von Ranke, als Erfinder der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung gehandelt, liebte zwar das Quellenstudium über alles, Fußnoten jedoch hielt er, jedenfalls zu Beginn seiner Karriere, für ein Zeichen schlechten Stils. Lediglich der Anfänger habe sie zu verwenden, um die Verläßlichkeit seiner Quellenstudien nachzuweisen.

Ranke war aber beileibe nicht der erste Verwender von Fußnoten, man muß schon zu den römischen Juristen und den Zitiercodes des Mittelalters zurückgehen, verschlungene Geschichten verfolgen – wie etwa die um den Verfasser des berühmten Dictionnaire, Pierre Bayle. Descartes hatte nicht lange zuvor behauptet, Geisteswissenschaften seien Zeitvertreib, so wissenschaftlich wie etwa das Reisen. Bayle versuchte nun zu zeigen, daß mit Hilfe eines ausgeklügelten Systems von Verweisen und Anmerkungen die Thesen des Historikers ebenso sicher aus den Quellen abzuleiten seien, wie Descartes' Regeln zur Ausrichtung der Erkenntniskraft es vorschrieben. Eins der kompliziertesten Anmerkungssysteme entstand also im Zuge der Verteidigung der historischen Wissenschaften.

Auch an Bayles Fußnoten findet Fußnotenforscher Grafton einiges auszusetzen. All die historischen Annotationen seien eben doch noch keine modernen Fußnoten. Im Prinzip aber blieb den Späteren nicht mehr viel zu tun übrig, als Bayles System zu verfeinern. Ranke, dessen Historikerehre Grafton zu retten versteht, erwies sich darin als Meister: „Er machte aus dem Prozeß der Forschung und Kritik ein dramatisches Geschehen und die Fußnote zu einer genußvollen Angelegenheit statt zu einem Anlaß, für den man sich zu entschuldigen hatte.“

Offen bleibt am Ende der streckenweise langatmigen Darstellung jedoch die Frage, wo sich in der Geschichte der Fußnote, die offenbar weniger eine deutsche als eine europäische ist, die Tragödie verbirgt. Wer wissenschaftliche Werke liest, weiß, wie es um die moderne Fußnote bestellt ist, und erfährt wenig Neues, wenn Grafton darauf verweist, sie sei so unentbehrlich wie die Toilette, ihre Funktion in einem historischen Werk entspreche der der Diplome an der Wand des Fleischerfachgeschäfts. Daß die „Pocken des Textes“ außerdem Ort für Seitenhiebe gegen Kollegen, Rufmorde und die Verschleierung von Tatsachen sind, ist auch nicht so rasend neu.

Der schöne Titel scheint nicht recht zum Buch, das Buch nicht recht zur Leserschaft zu passen; die Geschichte der Fußnote erweist sich als das, was man erwarten konnte: die Rekonstruktion des Aufkommens einer akademischen Konvention mit erstaunlich vielen Vorfahren und einigen unerwarteten, zum Teil auch spannenden Hintergründen. Manuela Lenzen

Anthony Grafton: „Die tragischen Ursprünge der deutschen Fußnote.“ Berlin Verlag, 228 Seiten, 36 DM

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