Technologie Intelligente Prothesen waren Science-Fiction und sind heute fast schon Realität. Wie die Wissenschaft mit künstlichen Gliedmaßen nicht nur behinderten Sportlern ganz neue Möglichkeiten schafft: Die Maschine in dir
Die Herkunft: Das Wort kommt aus dem Altgriechischen, gebildet aus pro (vor) und thesis (das Setzen oder Stellen).
Die Bedeutung: Medizinisch ist eine Prothese der künstliche Ersatz von Gliedmaßen oder Organ(teil)en. Befindet sich das künstliche Teil außerhalb des Körpers, wie Beinprothesen, spricht man von Exoprothese, innerhalb des Körpers von Implantat oder Endoprothese.
Der Einsatz: Ersatzteile gibt es heute für alles Mögliche. Die Palette reicht von Luft- und Speiseröhre über Blutgefäße, Knochenteile, Innenohr, Netzhaut und Herz. Im kosmetischen Bereich gibt es sie für Nase, Auge, Ohr, Wangen und Lippen.
Von Philipp Brandstädter
Einen Haken dran. Vierzig Jahre lang war das die beste Lösung, eine menschliche Hand zu ersetzen. Ein Haken oder eine Klaue, ein Ding zwischen Gartenkralle und Haarklammer, deren metallene Finger sich per Kabelzug öffnen ließen. So eine Prothese musste die filigranen Funktionen unserer unverzichtbaren Hände übernehmen. Oder wenigstens das Greifen und Halten von Gegenständen möglich machen. Für draußen gab es die Gummihand. Ein linkes oder rechtes Stück Schaufensterpuppe, das starr aus dem Hemdsärmel ragt, um nicht aufzufallen.
Doch die Orthopädietechnik hat Sprünge gemacht. Was seit den 60ern noch mechanisch war, wird heute gern bionisch genannt. Bionik bedeutet Technik, die die Natur nachahmt. Das tun Prothesen jedoch meistens, nur eben mehr oder minder präzise. Treffender ist zumindest im Deutschen der Begriff „myoelektrisch“. Myoprothesen sind durch Elektroden mit den verbliebenen Beuge- und Streckmuskeln amputierter Gliedmaßen verbunden. Sie reagieren auf ihre Bewegungen und senden elektrische Signale etwa an eine Roboterhand. Deren Elektromotoren bewegen dann leise surrend Daumen und Finger. Vorreiter auf dem Markt ist das schottische Unternehmen Touch Bionics. Es entwickelt Handprothesen mit voneinander unabhängig beweglichen Robofingern und programmierten Gesten. Einfache Handbewegungen steuern verschiedene Griffmuster an. Auch über das Smartphone können Träger ihren Prothesen Handgriffe zuweisen. Die sensiblen Ersatzhände drehen Haustürschlüssel, binden Schnürsenkel, geben Spielkarten. Sie halten Kaffeetassen, schütteln Hände, schenken Lebensqualität.
Wie sich die Prothetik entwickelt hat, können wir vor allem ab kommender Woche beobachten. Während der Paralympics in Rio werden Sportler wieder zeigen, was Technologie und Material können und wie unser Wunsch nach Kompensation und Optimierung fortschreitet. In gewissen Bereichen können die Hightech-Prothesen jetzt schon mehr als ihr Original aus Fleisch und Blut. Ein ebenbürtiger Ersatz sind Prothesen deshalb noch nicht.
Die trimmbare Technologie ist bislang nämlich nur in Sparten spitze. Auf seinen beiden Carbon-Beinen läuft Alan Oliveira die 100 Meter zwar in 10,57 Sekunden. Auf einem Fleck stehen bleiben kann er mit ihnen jedoch nicht. Die Funktion eines Beins nachzuahmen erscheint komplex genug.
Unsere Hände technisch zu ersetzen: nahezu unmöglich. Bis jetzt. Elektromotoren müssten unsere Muskeln und Gelenke übertreffen. Und Chips und Sensoren unseren Tastsinn. Immerhin, eine Roboterhand, die beim Greifen auf Widerstände reagiert und Gesten steuert, ist heute der von Krankenkassen getragene Standard.
Intuitiv Kaffee trinken
Nächster Schritt: Gedankensteuerung? Chirurgen und Neurowissenschaftler versuchen, Prothesen enger mit dem Körper zu verknüpfen. Durch eine interaktive Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine. Über Elektroden, die Reize nicht oberflächlich über die Haut, sondern direkt im Muskel aufnehmen, sollen Prothesen unbewusst gesteuert werden.
1.Flexible Elektroden werden entweder auf der Hautoberfläche oder den Muskeln angebracht oder direkt an die tiefer im Gewebe liegenden Nerven. Der Vorteil von letzterem ist, dass die Signale besser erfasst und Bewegungen feiner gesteuert werden können.
2.Das vom Gehirn ausgesendete Signal, das bei den Nerven im Arm ankommt, wird an einen Sensor in der Prothese übertragen.
3.Die in der Prothese liegende Einheit interpretiert das Signal und bewegt die Hand entsprechend. Derzeit können vier verschiedene Signaltypen erkannt werden.
4.In die Prothese integrierte biomimetische Sensoren oder flexible Elektronik liefern ein sensorisches Feedback, also das, was die Finger ertastet oder erfühlt haben.
Die US-Amerikanerin Claudia Mitchell bewegt ihre Armprothese mit ihren Gedanken. Ihr Hirn sendet über das Rückenmark elektrische Signale bis zu den Nervenenden ihres amputierten Arms. Dort werden sie von Elektroden an die Prothese geschickt. Wenn Mitchell zur ihrer Tasse greift, sich einen Löffel Zucker in den Kaffee schüttet und umrührt, scheint es, als könne der Roboterarm ihre Gedanken vorausahnen. Über die unmittelbare Schnittstelle, so hoffen die Forscher, könnten sich Maschinen genauso intuitiv bedienen lassen wie unsere eigenen Körperteile.
Dadurch würden intelligente Prothesen nicht nur für Menschen mit fehlenden Gliedmaßen selbstverständlich werden. Hugh Herr glaubt, dass Prothesen an Armen und Beinen künftig so alltäglich sind wie die Brille auf der Nase. Der Biophysiker, der beim Klettern beide Unterschenkel verlor, hat sich selbst Prothesen gebaut, mit denen er seine Größe verändern kann. Oder Füße mit Spikes, um besser steile Hänge hinaufzuklettern. „Sobald die Maschinen unsere Körper optimieren können“, sagt Herr, „werden wir sie auch benutzen.“
Der Mensch ist ein Mangelwesen. Und als solcher ist er es eben gewohnt, sich durch Werkzeuge stärker und leistungsfähiger zu machen.
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