"Tatort" über Baby-Tod: Ein Krimi gegen die Hysterie

Das zerklüftete Milieudrama "Der frühe Abschied" ist einer der intensivsten "Tatort"-Momente des Frühjahrs (Montag, ARD, 20.15 Uhr).

Die Frau, die alle für eine Kindsmörderin halten, gespielt von Lisa Hagmeister. Bild: ard

Erstaunlich, mit welchen Grausamkeiten wir unsere Kinder zu Bett schicken: "Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt…", heißt es ja in einem besonders weit verbreiteten Schlaflied, das sich am Ende dieser "Tatort"-Episode die Ermittler Sänger (Andrea Sawatzki) und Dellwo (Jörg Schüttauf) einander leise und müde vorsingen. Aber was ist eigentlich, wenn Gott nicht will, wenn es am nächsten Morgen kein Erwachen gibt?

"Kindsmord!" lautet die These, auf die sich ein berühmter Polizeipsychologe und ein gestresster Staatsanwalt schnell einigen. Ein Baby liegt in einem Frankfurter Wohnsilo tot in seinem Bettchen, alles deutet auf Vernachlässigung und Misshandlung hin. Zumal die Eltern ins klassische Täterschema passen: Der junge Vater (Tom Schilling) ist komplett überfordert, die Mutter (Lisa Hagmeister) weist soziopathische Züge auf. Zudem sitzt der Behörde die Öffentlichkeit im Rücken. Einer der Oberen sagt besorgt: "Die Presse lechzt doch nach weiteren Fällen von gesellschaftlicher Verrohung."

Doch Kommissarin Sängerin will nichts überstürzen, das ganze Land sähe doch sowieso nur noch überall Kindsmörder. Der Polizeipsychologe, der über die Sicherheitsverwahrung der Mutter zu entscheiden hat, macht indes gegen ihre Gutgläubigkeit ein starkes Argument geltend: "Ich verdächtige lieber eine Mutter zu viel, als ein Kind zu viel zu vernachlässigen." Dem kann man sich kaum verschließen.

Doch es ist den Machern dieses außerordentlichen "Tatort" hoch anzurechnen, dass sie trotz der aufgeladenen gesellschaftlichen Situation rigoros an der Unschuldsvermutung festhalten: "Im Zweifel für die Angeklagte." Dieser Leitsatz ist in Zeiten, da fast wöchentlich Babyleichen in Kühltruhen gefunden werden, offensichtlich auch von höchsten Behördeninstanzen nicht immer einzuhalten.

So wird "Der frühe Abschied" zu einem starken Antihysterie-Krimi - der interessanterweise die Gegenthese zu jener von Margarethe von Trotta inszenierten HR-Folge "Unter uns" bildet, die sich 2007 höchst plakativ eines ähnlichen Stoffes angenommen hatte. Dort wurde beklagt, dass die Menschen wegschauten und so dem Verwahrlosungsverbrechen Vorschub leisteten. Diesem unverbindlichen "Seid wachsam!", dieser Weltverbesserungsmaßnahme zum Nulltarif, setzen Regisseur Lars Kraume ("Guten Morgen, Herr Grothe") und Autorin Judith Angebauer ("Der freie Wille") nun ein zerklüftetes Milieudrama entgegen, das zum genauen Hinschauen zwingt.

So steigen wir mit Ermittlerin Sänger in die Seelenwelt jener beschuldigten Mutter hinab. Ein dumpfes Ersatzleben scheint die zu führen, ihr Erinnerungsvermögen ist gleich null, Selbstbewusstsein kann hier offensichtlich nicht erwachsen. Es gehört zu den intensivsten "Tatort"-Momenten dieses Frühjahrs, wie sich trotzdem ein Kontakt zwischen den beiden so unterschiedlichen Frauen aufbaut - so dass die eine schließlich das zitierte Schlaflied beseelt als Requiem für das tote Kind der anderen anstimmt: "Morgen früh, wenn Gott will." CHRISTIAN BUSS

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