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Takt Ein Deutscher leitet Polens wichtigstes Orchester. Wie ist das in diesen Zeiten, Alexander Liebreich?„Ich habe dort mehr Freiheit“

Gespräch Carolin Pirich Foto David Oliveira

Es ist spät geworden, Alexander Liebreich musste nach seiner Probe zum Arzt, Ohrenschmerzen. Zum Glück nur eine Erkältung. Ein Köfferchen hinter sich herziehend steuert er nun den Konferenzraum des Berliner Hotels an, legt die Hände auf den Tisch, los geht ’s. Seine Winterjacke zieht er erst aus, als wir von der Bürokratie zur Musik kommen. Dann heben sich die Herzen.

taz.am wochenende: Herr Liebreich, gratulacje!

Alexander Liebreich: Dziękuję bardzo. Vielen Dank. Warum gratulieren Sie?

Ihr Vertrag als Chefdirigent des Nationalen Sinfonieorchesters des Polnischen Rundfunks in Kattowitz, des NOSPR, wurde bis 2019 verlängert. Sie haben also immer noch den höchsten Posten der polnischen Musiklandschaft inne. Als Deutscher.

Ja. Und?

Die Regierung, die Partei Recht und Gerechtigkeit, PiS, tauscht Journalisten im Rundfunk aus, setzt Richter ab, will deutsche Einflüsse eingrenzen. Man hat das Gefühl, Polen wird ein zweites Ungarn. Gab es Widerstand gegen Ihre Vertragsverlängerung?

Nein.

Ich habe nicht einmal auf den Internetseiten des Orchesters eine Notiz gefunden, dass Sie bleiben. Schweigt man in Kattowitz vorsichtshalber?

Eine Pressekonferenz gibt es Ende Januar. Aber man sollte das genau betrachten: Auch die letzte Regierung hat alle Verwaltungsrichter ausgetauscht. Nicht so offensiv, aber doch. Für mich wichtig sind der Kultur- und der Außenminister.

In Krakau gab es kürzlich eine Diskussionsveranstaltung, in der Vertreter des Kulturministeriums ihr Programm vorgestellt haben: mehr polnische Literaten fördern, mehr Vergessenes auftun. Es werden Punkte für Patriotismus vergeben, nach denen der Fördersatz für Kulturprojekte festgelegt werden soll.

Habe ich noch nicht gehört.

Kann man mit Ihrem Musikprogramm Punkte machen?

Diese Pflege des kulturellen Erbes kenne ich aus allen Ländern, in denen ich gearbeitet habe. Zum Beispiel in Holland, dort habe ich zehn Jahre lang gearbeitet. Sieben Prozent der Musik, die das Rundfunkorchester spielt, muss holländisch sein. Wenn der Rundfunk das nicht tut, gibt es Geldstrafen.

Die holländischen Komponisten dürften sich als Quotenholländer fühlen.

Es wäre leichter, sieben Prozent sehr gute polnische Komponisten zu finden als sieben Prozent gute holländische. Aber diese Regelung gibt es in Polen ja nicht.

Noch nicht, vielleicht.

Es gibt in Polen natürlich das Bewusstsein, die polnische Kultur besonders zu pflegen. In Deutschland haben wir ein eher schwieriges Verhältnis zum Begriff Nationalerbe.

Trotzdem: Sie spielen Lutos-ławsi, Szymanowski, Penderecki. Alles Polen. Sammeln Sie doch patriotische Punkte?

Mich interessieren solche Punkte nicht. Mich interessiert gute Musik. Im 20. Jahrhundert gibt es Leute in Polen, die überragend sind, auf dem Niveau eines Strawinsky, eines Bartók, die kennt man viel zu wenig. In Deutschland gibt es tolle Komponisten, aber die deutsche Avantgarde wurde eingekeilt in einem Intellektualismus, der ihr den Klang und das Herz entzogen hat. Außerdem: Die polnische Kultur hat jenseits von jedem System immer eine große Kraft entfaltet.

Hätten Sie ein Problem, wenn die Politik Ihnen künstlerisch reinreden wollte?

Ich bin als Künstler frei. Ich will Musik machen, wo Qualität ist. Wenn ich spüre, dass keine Qualität da ist, will ich da nicht mehr arbeiten. Ich kenne das Orchester seit über zehn Jahren, ich habe zwei Regierungen erlebt, und ich kenne Kattowitz seit über 15 Jahren. Ich habe dort mehr Freiheit gespürt als oft in europäischen und deutschen Rundfunkorchestern.

Gibt es neue Vereinbarungen in Ihrem Vertrag?

Er besteht absolut auf der Grundlage des alten. Sind Sie jetzt enttäuscht?

Aber nein. Was Sie sagen, klingt wie eine Wendung zu Dur in diesem Abgesang.

Diese Aufregung hat mehr mit uns zu tun als mit Polen. Wir haben große Angst, die Werte zu verlieren, die wir vor 70 Jahren gefunden haben. Aber wir kennen Polen zu wenig. Schauen Sie doch auch mal nach Italien. Man müsste erzürnt sein, wie kulturelle Institutionen in den Dreck geschmissen werden!

Nur: Ihre Intendantin sollte jetzt eigentlich in Berlin sein, um mit Ihnen und dem Bürgermeister von Kattowitz eine Pressekonferenz zu geben, zum neuen Programm von NOSPR und dem Festival Kultura Natura. Stattdessen wurde sie abgesagt. Die Intendantin ist nach Warschau gereist. Warum?

Es gibt eine neue Präsessin im Rundfunk, es gibt Um- und Neugestaltungen, und Joanna muss da dabei sein.

Machen Sie sich doch Sorgen um Ihre Stelle?

Ich würde sie gern behalten.

Ihre Familie wohnt in München. Warum machen Sie in Kattowitz weiter?

Wir sind ein eigenes Revier in Kattowitz, haben eine eigene Kultur. Es gibt großen Rückhalt aus der Bevölkerung, ein riesiges Interesse an Musik. Ich habe auch familiäre Wurzeln da. Mein Vater stammt aus Brünn. Meine urgroßelterliche Familie ist 40 Kilometer östlich von Kattowitz, in Auschwitz, umgebracht worden. Außerdem hat mich dieses Melos, was diese Region hat, dieses Spirituelle jenseits des Religiösen, immer fasziniert.

Was ist für Sie spirituell?

Religion ist die vereinstechnische Umsetzung des Spirituellen, da bin ich kritisch. Eine spirituelle Erfahrung habe ich etwa, wenn ich vor einem großen Berg stehe. Da spüre ich, dass es Größeres gibt. Er hat eine magische Kraft.

Kattowitz ist eine etwas finstere Bergbauernstadt. Wo sind die Berge?

Stimmt schon, wir sitzen auf der Grube. Aber neben dem Konzertsaal haben wir einen Förderturm. Wenn ich hinauffahre, sehe ich bei gutem Wetter die Hohe Tatra. Und ich ahne, wie es 1.200 Meter unter mir in der Grube in die Tiefe geht. Gerade von diesen Bergbauern geht eine Spiritualität aus. Sie sitzen tief unten, ohne Licht, im Gestein. Dort fangen sie an zu zeichnen, machen Musik. Es gibt eine Spiritualität im Gestein, wie es sie auch in den Alpen gibt. Das ist eine Ruhe, die über dem Menschen steht, ein Melos, eine Sehnsucht. Ich spreche viel mit dem Orchester über etwas, das über uns steht.

Geht das mit dem NOSPR besonders gut?

Ich suche mir überall Menschen, mit denen mich eine gewisse Sehnsucht verbindet. Es gibt auch andere, die brauchen das nicht, die sagen, laut oder leise, wie soll ich jetzt spielen?Bitte schön.

Über seine Anfänge „Vor der ersten Klavier­stunde habe ich geheult, dann war ich entfesselt“

Lernen Sie polnisch?

Gut funktionieren Zahlen bis Tausend, Wörter für den Proben-ablauf. Es ist aber für die Konzentration besser, wenn man nicht so viel quatscht.

Eine schwierige Sprache?

Es gibt zu viele grammatikalische Fälle. Wenn man jemanden ruft, Joanna zum Beispiel, die Intendantin des Rundfunks. Man sagt Joanno, wenn man sie ein bisschen kennt. Joasiu, wenn man sie etwas näher kennt. Je nachdem, wie man zu jemandem steht, benutzt man andere Fälle. Aber dadurch wird immer klar, welche Beziehung man zu jemandem hat.

Wie spricht Sie der Konzertmeister an?

Ich bin Pan Dyrektor. Herr Direktor. Oder Maestro.

Klingt nach Distanz.

Nicht zur Person, es ist eher eine Ehrerweisung. Was ich gar nicht haben kann, ist „Herr Liebreich“. Ich habe viel im Ausland gearbeitet, in Holland zum Beispiel war ich zehn Jahre, da duzt man sich. In Kattowitz bin ich auch Pan Alexander, Herr Alexander.

Wie bringen Sie ein Orchester, 120 Musiker mit eigenen Vorstellungen, dazu, das zu tun, was Sie sich vorstellen?

Es gibt ein paar systemische Voraussetzungen: einen guten Konzertmeister, einen guten Saal, gute Stimmproben. Eine gute Aufnahme machen, auf Reisen gehen. So können Sie das Orchester weiterbringen. Vor allem müssen Sie das machen, wovon Sie überzeugt sind.

Als Sie Anfang 30 waren, hat Sie das Concertgebouw-Orchester in Amsterdam eingeladen, Brahms ’ erste Sinfonie zu dirigieren. Sie haben die Probe abgebrochen, weil die Musiker nicht so spielten, wie Sie es wollten. Besonders diplomatisch war das nicht. Machen Sie das immer noch so?

Stellen Sie sich vor, Ihre Ampel zeigt Grün, aber die anderen fahren, obwohl sie Rot haben. Fahren Sie, weil Sie recht haben, oder fragen Sie sich, warum es diesen Gegenverkehr gibt? Als junger Mann muss man mal drüberfahren. Ich habe damals gesagt, ich möchte es so, spielen Sie es doch jetzt bitte auch so, Freunde, jetzt oder nie. Sie sagten: Nie. Dann war ich draußen.

Sie wurden später aber wieder eingeladen.

Ich bin auch kein ganz junger Dirigent mehr, und es gibt Traditionen im Orchester, mit denen man umgehen muss. Wie ein Kind lernen muss, wie weit es gehen kann.

Sie kommen nicht aus einer Musikerfamilie. Wie kamen Sie dazu, vier Stunden am Tag Klavier zu spielen?

Vor der ersten Klavierstunde habe ich geheult, dann war ich entfesselt.

Das muss eine fantastische Lehrerin gewesen sein.

Ich habe in der Musik eine neue Welt gefunden. Dirigiert habe ich erstmals, weil sich bei unserem Abi-Konzert in der Schule die Musiklehrer darum gestritten hatten, wer dirigieren sollte. Dann habe ich das gemacht.

Gab es jemals einen Plan B?

Ich habe Gesang studiert und Romanistik. 1986 habe ich dann Claudio Abbado kennengelernt.

Bei einem Chorprojekt mit dem Gustav-Mahler-Jugend-Orchester.

Später in München, 1992, habe ich Abbado gefragt, ob ich sein Schüler werden dürfe. Er hat immer gesagt, nein, ich bin kein Lehrer. Aber er hat mich zu Proben eingeladen. Ich durfte alles fragen. Sogar einmal assistieren. Das waren für mich die prägendsten drei Jahre meines Lebens.

Was haben Sie von Abbado mitgenommen?

Seine instinktvolle Suche nach „dem Klang“, der irgendwo über dem Orchester schwebt. Sehr unkapellmeisterlich weiß er nicht, wie er sich in der Probe ausdrücken soll, aber er war immer auf der Suche nach dem, was darüberliegt. Immer wieder treffe ich Leute, die mit ihm zusammen waren. Auch bei ihnen geht es immer um die Suche nach „dem Klang“. Das ist nicht „der Klang“, sagte Abbado immer. Es gibt keine hochvirtuosen Wortinterviews mit ihm.

Was fehlte „dem Klang“?

Abbado wusste genau, was er wollte. Aber, mit der Taschenpartitur in der Hand, hat er nur gesagt: Das ist nicht „der Klang“. Der Klang stimmt nicht. Die Berliner Philharmoniker konnten das irgendwann nicht mehr hören.

Mann am Pult

Mann: Geboren 1968 in Regensburg, Musikwissenschaftler, Romanist und Dirigent. Sucht nach der Aura einer Musik

Pult: Chefdirigent des Münchener Kammerorchesters und des Nationalen Sinfonieorchesters des Polnischen Rundfunks

Wie finden Sie Worte für das, wie es klingen soll?

Ich bemühe mich, weniger zu sprechen. Es geht um das Auratische. Ich kann die Rum-gschaftelei nicht haben: Es geht um jene Phrase bis zum dritten Takt, noch a bissl mehr artikuliert, da noch ein Akzent.

Aber die Musiker müssen ja wissen, was Sie meinen.

Es gibt eine Wahrheit der Musik, die darüberliegt! Sonst ist die Musik eh nix. Mit dem Münchener Kammerorchester bin ich da auch sehr auf einer Wellenlänge.

Sie sind bis 2016 Chefdirigent des Münchener Kammerorches-ters. Ihr Vertrag in Kattowitz geht bis 2019. 2018 sind dort Kommunalwahlen. Was passiert, wenn der Bürgermeister, der sich sehr für Sie einsetzt, abgewählt wird?

Kommunalwahlen? Ich bin Bayer, ich wähle in Bayern. Aber wenn Sie über das Kommunale sprechen: Auch der letzte Bürgermeister von Kattowitz, Piotr Uszok, hat die Musik sehr unterstützt.

Es wurde ein neuer Konzertsaal gebaut.

Ich kenne die Diskussion in München, wo der Konzertsaal nicht in Absprache mit den Kulturschaffenden gebaut wird. Sie nehmen das praktikabelste Modell. In Kattowitz dagegen wurden die Kulturleute in die Planung eingebunden. Der Architekt ist mit uns jeden Monat auf die Baustelle gegangen.

Was konnten Sie beeinflussen?

Von der Akustik bis hin zur Tatsache, dass man genug Damentoiletten hat, damit man nicht in der Pause 15 Minuten in der Schlange stehen muss, haben wir über viele Dinge gesprochen. Politik und Kultur haben sich bislang gut zusammengefügt. Gute Dinge entstehen in diesem Schulterschluss, sonst geht es nicht.

Sie haben Hoffnung, dass das in Polen so bleibt?

Wir sollten Vertrauen haben in die Menschen. Das ist auch die einzige Chance, die ich mit den Musikern habe. Ohne Vertrauen geht nichts. Es geht so viel in diesem Land, was hier nicht geht.

Das klingt schön. Was geht?

Nächtelang Musik machen. Das NOSPR spielt die ganze Nacht mit großen Jazzern, richtig gute Musik. Es gibt ein großartiges Lebensgefühl. Das vergeht nicht so ohne Weiteres.

Carolin Pirich, Autorin der taz, hört gern Chopins Walzer in der Berliner S-Bahn

David Oliveira ist Fotograf und spielt seiner Tochter zum Einschlafen gern Ravels Boléro vor

Auf Seite 11 lesen Sie einen Essay über das neue deutsch-polnische Verhältnis

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