: Taiwans Wertesystem ist aus den Fugen
■ Demonstrationen vor einem halben Jahr noch undenkbar / Gesellschaft löst sich langsam von der Allmacht der Kuomintang / Heftigste Straßenschlacht seit 40 Jahren / Neue Töne in der Vergangenheitsbewältigung / Viel hängt vom KMT–Parteitag im Juli ab
Taipeh (afp/ap) - Drei Monate nach dem Tod des taiwanesischen Präsidenten Chiang Ching–kuo beginnt seine vorsichtige Reformpolitik Purzelbäume zu schlagen. Politische Auseinandersetzungen, Straßendemonstrationen, Streiks und massive Kritik an der bisherigen Regierungspraxis prägen inzwischen den Alltag in einem Land, in dem noch bis vor kurzem niemand wagte, die Allmacht der regierenden Kuomintang– Partei in Frage zu stellen. Das gesamte althergebrachte Wertesystem gerät aus den Fugen. „In Taiwan hat eine Ära der Reformen begonnen, die langfristig das gesamte politische, gesellscchaftliche, ökonomische und kulturelle Spektrum beeinflussen und tief in die bisherigen Lebensformen und Denkweisen eindringen werden“, glaubt denn auch Professor Hsiao Hsin–huang vom Institut für Völkerkunde an Taiwans renommiertestem Forschungsinstitut, der Sincia–Akademie. Begonnen hatte die innen– und außenpolitische Öffnung mit der Aufhebung des seit 38 Jahren geltenden Kriegsrechts im vergangenen Juli; mit der Aufhebung des Demonstrationsverbots nach dem Tod Chiang Ching–kuos im Januar erreichte sie ihren ersten Höhepunkt. Seitdem gingen Tausende Demonstranten für mehr Demokratie und Umweltschutz, für Chancengleichheit Behinderter, gegen Kinderprostitution und Niedriglöhne auf die Straße. Bauern, Taxifahrer, Rentner, Arbeiter und Studenten - der Protest zog sich durch alle Schichten der Gesellschaft. Zu den heftigsten Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstranten kam es am Wochenende als aufgebrachte Bauern das Parlamentsgebäude in Taipeh stürmten. Den etwa 3.000 Bauern aus dem ganzen Inselgebiet hatten sich zu der genehmigten Demon stration Einwohner von Taipeh, Mitglieder der oppositionellen demokratischen Fortschrittspartei und Studenten angeschlossen. Sie protestierten gegen die Vernachlässigung der Landwirtschaft zugunsten der industriellen Entwicklung des Schwellenlandes und verurteilten die Regierungspolitik gegenüber den vom Agrarpreisverfall stark betroffenen Bauern. Nach offiziellen Angaben wurden mehr als 200 Personen verletzt und 130 Demonstranten festgenommen. Die Regierung kündigte inzwischen harte Sanktionen gegenüber den Organisatoren der Demonstration an. In welche Richtung und mit welcher Geschwindigkeit die Reformen weitergehen, hängt nicht zuletzt vom Erfolg der geplanten Verjüngung des Parlaments sowie von den Beschlüssen des Parteitages im Juli ab. Ein großer Teil der 1.200 Abgeordneten waren vor rund 40 Jahren noch auf dem chinesischen Festland gewählt worden und besitzen seitdem ein Mandatsrecht auf Lebenszeit. Die Führung der Kuomintang möchte die inzwischen schwer ergrauten Alt–Parlamentarier zum freiwilligen Rückzug aus der Nationalversammlung bewegen. Der oppositionellen Demokratischen Fortschrittspartei - selbst ein Beweis für die neue Flexibilität der Kuomintang - gehen diese Pläne noch nicht weit genug. Sie zweifelt die Legitimation der Alt– Parlamentarier an und verlangt statt deren „Pensionierung“ allgemeine Neuwahlen. Neue Töne beherrschen inzwischen auch die Vergangenheitsbewältigung der Kuomintang: So veröffentlichte sie kürzlich die amtlichen und für sie keineswegs ruhmreichen Berichte über die brutal niedergeschlagenen Aufstände der Taiwanesen gegen die Besatzungsmacht, bei denen am 28. Februar 1947 rund 17.000 Aufständische hingerichtet wurden. Mit Spannung wartet man in Taiwan auf die Ergebnisse des 13.Parteitages. Von ihnen hängt ab, wie weit Taipehs vorsichtige Öffnung gegenüber der Volksrepublik künftig gehen wird. Bislang hält „Nationalchina“ noch an seinem Alleinvertretungsanspruch aller Chinesen fest und tritt - zumindest formell - weiterhin für eine bewaffnete Rückeroberung des kommunistisch beherrschten Festlands ein. Eine friedliche Koexistenz beider Chinas würde nicht zuletzt den Bewohnern von Insel und Festland zugute kommen, die seit vier Jahrzehnten nicht zusammenkommen können. Hsin–Hsin Yang
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen