Tageszeitungen in Deutschland: Alles, was zählt
Seit fast 60 Jahren bestimmt Walter J. Schütz mit Bleistift und Karteikarten die Zahl deutscher Tageszeitungen. Geld verdient der 82-Jährige damit nicht.
„Dreihundertdreiunddreißig“, ruft Walter J. Schütz, die Begeisterung vibriert geradezu durchs Telefon, „seit vorgestern Abend, 20.47 Uhr, liegen die Zahlen vor.“ Jetzt bloß keine Schnapszahlwitze, hier geht es um exakte Wissenschaft, Zeitungswissenschaft, um exakt zu sein.
Und um Walter Schütz’ ganz persönlichen Stichtag, wichtiger vielleicht noch als sein 82. Geburtstag in knapp zwei Wochen. Denn Schütz ist fertig: Die Ergebnisse der 8. „Stichtagssammlung der deutschen Tagespresse“ liegen vor.
Danach gibt es in Deutschland exakt 333 gesellschaftsrechtlich selbstständige Verlage, die täglich insgesamt 1.527 verschiedene (Lokal-)Ausgaben herausgeben. Die Zahl der „Publizistischen Einheiten“, also der Vollredaktionen, ist auf 130 geschrumpft.
Überhaupt zeigen die Zahlen überwiegend nach unten, doch auch das kann Schütz heute nicht die Laune verderben: „Das ist schon ein Gefühl großer Befriedigung“, sagt der alte Herr. Zumal er jetzt auch endlich wieder Platz in seinen vier Wänden hat. Seit auskunftsunwillige Verleger in den 1990ern dafür sorgten, dass die amtliche Pressestatistik eingestellt wurde, findet sie nämlich bei Schütz zu Hause statt.
Niemand weiß wie viele Zeitungen es gibt
So bizarr das im von Erhebungen über alles und jedes verwöhnten digitalen Deutschland klingen mag: Wie viele Zeitungen es hierzulande wirklich gibt, wo überall Lokalausgaben erscheinen, wie hoch deren Auflagen sind, weiß keiner so genau. Weder der Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger (BDZV) noch die Auflagenzähler von der IVW haben vollständige Zahlen. Denn nicht jeder Verlag ist Mitglied im Verband, nicht jeder Titel lässt seine Auflage von der IVW prüfen.
Nur Schütz ist unerbittlich – seit mehr als einem halben Jahrhundert. 1954 fand die erste „Stichtagssammlung der deutschen Tagespresse“ statt, mit dem so aufwendigen wie pragmatischen Ansatz, dass man mangels verlässlicher Erhebungen dann wohl mal selbst nachzählen müsse. Und schon damals hieß der entscheidende Zähler Walter J. Schütz. Und dabei ist es bis heute heute geblieben:
Für eine Woche im März ließ sich der ehemalige Ministerialrat im Presse- und Informationsamt der Bundesregierung auch 2012 wieder alle in der Bundesrepublik Deutschland erscheinenden Tageszeitungen mit allen Unter-, Neben- und Lokalausgaben ins Bonner Reihenhaus kommen. Und zählte nach. Streng analog, mit Füllfederhalter, Bleistift, Karteikarten – und der unerbittlichen Titelliste der Stichtagssammlungen von 1954 bis 2004.
Vor acht Jahren waren es noch 133 Publizistische Einheiten, 347 Verlage als Herausgeber und 1.584 einzelne Ausgaben. „Die Zeitungskrise ist nach wie vor da“, sagt Schütz nüchtern, „da ist auch kein Ende in Sicht.“
Den Hausstand auf den Kopf gestellt
Auch wenn Schütz eigentlich 2004 mit der Jubiläumszählung endgültig in Pension gehen wollte, ließ er sich gern von der Hannoveraner Hochschule für Musik, Theater und Medien rumkriegen. Hier wirkt Schütz seit Langem als Honorarprofessor, hier werden seine Daten elektronisch erfasst und aufbereitet.
Und so ließ er sich auch dieses Jahr noch mal beknien, auch wenn der bekennende Junggeselle dafür seinen ganzen Hausstand auf den Kopf stellen muss. Wer Schütz Anfang April in Bonn besuchte, dem hätte die Post am liebsten gleich noch ein Päckchen mitgegeben: Ein eigener Kurierfahrer wurde eingesetzt, um die Zeitungsberge zu Schütz zu bringen.
Schon im Flur begann es sich zu stapeln, hier lag das „Frischfleisch“, die eben eingegangene Beute. Das Wohnzimmer wurde zum Zeitungsmeer, und Nordrhein-Westfalen fand wegen der vielen Ausgaben von WAZ & Co. gleich in der Bibliothek im Keller statt.
Es ist Liebe
Bei allem wissenschaftlichen Ehrgeiz und Pflichtgefühl: Bei Schütz ist es Liebe. Wenn dann endlich wieder der Postmann klingelt und einen neuen Packen Zeitungen bringt, steht er im Flur – und freut sich mit Leib und Seele. Natürlich grantelt er dabei, dass er eigentlich gar nicht mehr wollte, dass das Alter seinen Tribut fordere und es überhaupt an eine Unverschämtheit grenze, wenn einzelne Titel in falsch verstandener Sorgfalt jede Lokalausgabe einzeln in Folie verschweißt liefern, „und dann noch mit Plastikstrippen drum“.
Doch anschließend ruft Schütz: „Wenn wir alle Ausgaben der WAZ-Blätter auf einen Stapel legten, kann ich mich dahinter verstecken.“ Und hüpft schon mal los, die Treppe runter. Dass er bald 82 wird, ist dann wie weggeblasen. Und passt irgendwie auch zur WAZ-Gruppe, wo „der Grotkamp ja auch von Ewigkeit zu Ewigkeit lebt“, wie Schütz in Anspielung auf Verlagssenior Günther Grotkamp (ebenfalls 82) meint. Der hat Anfang des Jahres mit seiner Frau die Mehrheit an Deutschlands zweitgrößtem Zeitungsverlag übernommen und einen klaren Kurswechsel, zurück zum Lokalen, verordnet.
Völlig richtig, findet Schütz. Mit der wohlfeilen Panik über den unmittelbar bevorstehenden Exitus der gedruckten Tageszeitung kann er nichts anfangen: „Zum deutschen Zeitungsmarkt gehört, das jedes Dorf seine zuständige Zeitung hat“, sagt der Nestor der deutschen Pressestatistik, „es bleibt immer eine übrig.“ Was dagegen seit Jahren, ja Jahrzehnten baden geht, ist die publizistische, die redaktionelle Vielfalt. „Welchen Einfluss solche Monopolstrukturen auf die redaktionelle Qualität haben, ist eine andere Frage“, sagt auch Schütz.
Die Kraft in der Provinz
Doch ihm geht es jetzt nicht um journalistische Inhalte. Die Stichtagssammmlung bleibt streng quantitativ – und hält so gleich auf den ersten Blick Ergebnisse bereit: Während in Schütz’ Wohn- und anderen Zimmern (nur Küche, Bad und Schlafzimmer sind tabu) die Regionalpresse auf dem Fußboden Quadratmeter macht, reicht für die überregionalen Blätter fast die Ablagefläche des Wohnzimmer-Sideboards. Nur die Süddeutsche, mit ihren diversen Lokalausgaben auch gleichzeitig Regionalzeitung für Oberbayern, passt nicht mehr drauf.
In der Region, genauer: in der Provinz liegt die Kraft, ist noch so eine Lehre aus der Stichtagssammlung 2012. Schon mal von der Grenzwarte aus Oberviechtach gehört? Macht nichts, sagt Schütz, „aber schauen Sie: Auflage bei der letzten Stichtagssammlung vor acht Jahren 9.900 Exemplare. Auflage 2012: immer noch 9.900!“ Auf dem Lande lebt sich’s gut, „je entlegener die Region, je weniger urbanisiert sie ist, desto unangefochtener sind die Zeitungen“, folgert Schütz. In den Großstädten und Ballungszentren sei die Lage dagegen „katastrophal“.
Wie sie sich ganz genau verhält, wird Schütz in den nächsten Monaten analysieren, im Herbst erscheint dann seine komplette Auswertung im Fachblatt Media Perspektiven. Geld verdient er mit dem akribischen Zeitungzählen nicht, eher legt er noch drauf: Wenn ein Verlag nicht für höhere wissenschaftliche Weihen kostenlos liefern will, bestellt Schütz die benötigten Zeitungen eben auf Rechnung.
Zwei Titel haben sich trotzdem bislang der Stichtagssammlung 2012 verweigert: Das Viernheimer Tageblatt und die mit ihm verbandelte Speyerer Morgenpost ignorierten selbst Schütz’ Mahn- und Drangfaxe, die sonst keinen Verleger kaltlassen. Doch dort war nichts zu machen, schnaubt Schütz am Ende des Gesprächs in den Hörer: „Die bekämen sogar Geld dafür. Aber selbst die Bürgermeister am Ort konnten nichts ausrichten.“
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