„Tagesschau“ ohne Wetterbericht: Der letzte gemeinsame Nenner
Die „Tagesschau“ vergisst einmal das Wetter – und die Aufregung ist groß. Warum? Weil die Nachrichten der ARD viel mehr sind als 15 Minuten TV-News.
„Und nun die Wettervorhersage für Morgen, Montag, den 2. Juni.“ Dann kam nichts. Na gut, nicht nichts. Es liefen zwei Sekunden Schwarzbild, aus dem Off hörte der Zuschauer das Geraschel von Jan Hofers Blättern, dann war wieder der Chefsprecher der „Tagesschau“ im Bild, holte kurz, aber tief Luft: „Thomas Roth meldet sich in der Halbzeitpause des Testspiels der deutschen Fußballnationalmannschaft gegen Kamerun.“ Kein Wetter. Keine Erklärung.
Stattdessen kurz darauf eine Entschuldigung der Redaktion via Twitter („Das Team klärt die Ursache“), dazu diverse Meldungen in den sozialen Netzwerken und auf nahezu allen deutschsprachigen Nachrichtensites: Google News listete am wetterlosen Montag, den 2. Juni, mehr als 100 Seiten auf, die über „Tagesschau“ in Zusammenhang mit „Panne“ in Zusammenhang mit „Wetter“ berichteten. Warum diese Aufregung?
Weil die „Tagesschau“ mehr ist als 15 Minuten Nachrichten im Fernsehen. Als ich klein war – vermutlich so um die sechs Jahre alt –, fragte ich meinen Onkel, warum denn vor den Nachrichten (die „Tagesschau“ waren „die Nachrichten“) immer die Uhrzeit eingeblendet würde. „Das ist die deutsche Pünktlichkeit“, sagte mein Onkel, der von jeder Deutschtümelei unbefangen ist. Vermutlich war es Ironie. Ich hab sie nicht verstanden.
Das Einzige, was bei mir hängen blieb: Die Nachrichten – die „Tagesschau“ – geben uns nicht nur vor, was da draußen passiert ist, sondern auch: wie spät es da draußen zu sein hat. Meine Flik-Flak-Uhr hab ich nach der „Tagesschau“ gestellt. Der Uhr an unserem Backofen konnte ich nicht vertrauen.
Vertrauensbonus
Ein Kumpel von mir durfte zu Grundschulzeiten bis 20 Uhr aufbleiben. Nicht länger. Es sei denn, er guckte mit seinen Eltern die „Tagesschau“. Dann musste er erst um viertel nach ins Bett. Erzwungene Auseinandersetzung mit dem Nachrichtenfluss bei dem Kleinen – und ein riesiges Vertrauen in die „Tagesschau“ bei den Großen: Es kann nicht schaden, wenn unser Kind das sieht.
Keiner Marke in Deutschland wird so viel Vertrauen entgegengebracht wie den Hauptnachrichten der ARD. „heute“ im Zweiten kann man zur Not auch gucken (beginnt aber um 19 Uhr und bringt deshalb den Biorhythmus durcheinander), den Rest kenne ich nicht.
Genau deswegen ist die Aufregung so groß. Als die „Tagesschau“ am 30. Dezember des letzten Jahres ihre 20-Uhr-Sendung mit einem Beitrag über den Unfall und Gesundheitszustand des Rennfahrers Michael Schumacher eröffnete, setzte es von allen Seiten Backpfeifen. Nimm das, du Boulevard-Schwein „Tagesschau“! Chefredakteur Kai Gniffke sah sich gemüßigt zu erklären, warum so entschieden worden war.
Dass die „Tagesschau“ in den Anfangsjahren eine Nachrichtensendung ohne SprecherIn, aber mit teilweise 50 Prozent Sportanteil, dazu Berichten von Modenschauen, Ausstellungen und sonstigen bunten Meldungen war, ist längst vergessen. Denn es folgten Karl-Heinz Köpcke und die „Lebenshaltungskosten“. Sie prägten das Bild unserer Nachrichten: staatstragend (trotz vermeintlicher Staatsferne), seriös (obwohl in diesem jungen, hippen Zappelmedium Fernsehen) und: unheimlich wichtig.
Diktatorische Nachrichtenvorleser
So ist es geblieben. Bis heute. Dafür gab’s im vergangenen Jahr Kritik von „heute journal“-Anchorman Claus Kleber: „Das trockene Nachrichtenablesen gibt es heutzutage nur noch um 20 Uhr und im koreanischen Fernsehen“ – und Kleber meinte nicht den Süden des Landes.
„Tagesschau“-Chef Gniffke reagierte, wie sich das für diktatorische Nachrichtenvorleser gehört: Er schlug zurück: „Die ’Tagesschau‘ erreicht 2013 so viele Zuschauer wie die Hauptnachrichtensendungen von RTL, ZDF und Sat.1 zusammengerechnet.“ Die „Tagesschau“ selbst würde über eine Panne bei der Ausstrahlung des Wetters übrigens nicht berichten. Gott sei Dank.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Landesparteitag
Grünen-Spitze will „Vermieterführerschein“
Die Wahrheit
Herbst des Gerichtsvollziehers