Tag des offenen Denkmals: Der Steineversteher
Rote Ziegel, gelbe Ziegel: Horst Hartwig kennt alle. Am Tag des offenen Denkmals erklärt er die Berliner Backsteinarchitektur.
Jugendliche sitzen auf einer Bank vor dem Kunstquartier Bethanien am Kreuzberger Mariannenplatz. Sie hören Rapmusik, grölen ein bisschen mit. Hinter ihnen erhebt sich der mächtige Bau des Bethanien – Rundbogenfenster, zwei sechseckige Türmchen, dazwischen eine Glocke und ein Kreuz. An der Fassade neben dem Haupteingang steht Horst Hartwig und befühlt die Backsteine, sucht nach welchen, die noch den ovalen Stempel mit dem Namen der alten Ziegelei eingeritzt haben. Hartwig, lange graue Haare, Lederjacke, Reflektorriemen um die Hosenbeine, ist Experte in der Geschichte von Berliner Backsteingebäuden und macht am Tag des offenen Denkmals eine Führung zu 15 verschiedenen Gebäuden in der Luisenstadt und zwar mit dem Fahrrad. Das Bethanien sei „der Klassiker“, meint er.
„Man sieht nur, was man weiß“, sagt er zu Beginn der Tour. Warum manche Ziegel rot sind und manche gelb ist schnell erklärt, die einen sind eisen-, die anderen kalkhaltig, je nachdem, wo der Ton eben herkommt. Die gelben Ziegel für das Bethanien wurden Anfang des 19. Jahrhunderts aus Birkenwerder über die Havel herangeschippert. Mit der Hand ist jeder einzelne verarbeitet worden, auf manchen sieht man noch den Ziegeleinamen „K&H BWDR“ eingestempelt. Die hat Hartwig besonders gern, weil sie so direkt auf ihre Herkunft aus jener Zeit verweisen.
Der unschlagbare Vorteil an einer Führung mit dem Rad ist schnell erkannt: Man steht und geht nicht solange bis die Füße schmerzen, sondern kann sich während des Zuhörens bequem an die Stange oder den Gepäckträger lehnen.
Etwas seitlich vom Haupteingang wird gerade eine Mauer restauriert. Hartwig grüßt die Bauarbeiter wie alte Freunde, als er an die Baustelle tritt. Er kommt öfter her, um unter den alten Steinen nach einem besonderen zu suchen. Bei sich in die Wohnung hat er schon 300 verschiedene angesammelt. Hier liegen sie in Stapeln herum, die Neuen aus Dänemark scharfkantiger und gleichförmig. Die Alten unebener und weicher. Die Qualität ist hochwertiger, „Charaktersteine“, nennt Hartwig sie. „Das Bethanien steht noch in 500 Jahren“, da ist er sicher.
Für die "Backstein-Tour" treffen Sie Horst Hartwig an diesem Samstag mit dem eigenen Rad entweder um 14 Uhr an der St.-Jacobi-Kirche in der Oranienstraße oder um 16 Uhr vor der Bechstein-Fabrik in der Ohlauer Straße. Zum bundesweiten Tag des offenen Denkmals sind in Berlin die Türen und Tore von mehr als 325 sonst gänzlich oder teilweise unzugänglichen Bauten geöffnet. Experten erklären, wie die Stätten restauriert und instandgesetzt werden. Schwerpunkt ist dieses Jahr "Farbe" - dabei wird auch mal auf Details verwiesen, denen sonst weniger Aufmerksamkeit zuteil wird: Treppenhäuser, Kirchenfenster oder eben Ziegel. Das ganze Programm auf stadtentwicklung.berlin.de/denkmal/. ABO
Der 65-jährige ist gelernter Dekorateur. Beim Schaufenster herrichten hat er seine Augen für Details geschärft. Seit einem Jahr ist Hartwig Rentner, sein Fahrrad sieht allerdings überhaupt nicht danach aus. „Fast and fine“ steht auf dem mattschwarzen Rahmen des sportlich leichten Herrenrads, schnell fährt er damit dennoch nicht. Auf den Strecken zwischen den einzelnen Stationen ist genug Zeit das eben Gehörte zu überdenken, sich umzuschauen, ob hier und da nicht noch ein Backsteingebäude ist und ob man nicht selber schon unterscheiden kann, ob die nun von Hand gefertigt oder maschinell hergestellt sind.
200 Jahre Stadtgeschichte
Nachdem man die ganze Zeit auf das Gelb der Bethanien-Ziegel geguckt hat, ist beeindruckend, wie knallrot die St. Thomaskirche dagegen leuchtet. Steht man aber dicht davor, ist zu sehen, dass nicht ein einziger Stein wirklich rot ist, sondern rosa, gelb, lachs und nicht einer gleicht dem anderen. Hartwigs Tour ist in zwei Teile gegliedert, damit man in der Mitte ausscheiden oder dazu stoßen kann. So eine Führung leitet er zum ersten Mal, über Ziegel forschen, das macht er schon seit Jahrzehnten. In Bibliotheken liest er über Ziegeleien, die Besitzer, über Geologie, den ökonomischen und ökologischen Aufwand, den Berlin damit hatte. „Mit der Geschichte des Ziegels kann man 200 Jahre Stadtgeschichte auffangen“, sagt Hartwig.
Beim Radeln durch die Kreuzberger Oranienstraße deutet Hartwig auf die Häuser, platt und grau, nur hier und da der Schnörkel eines Altbaus, „grauenvoll“, findet er. Bis die gelben Ziegel der Städtischen Blindenanstalt zu sehen sind, die sich zwischen den Spätis und Fressbuden, zu einer ornamentreichen Fassade errichten, die einem dennoch zuvor schwerlich aufgefallen sein wird.
Es ist nicht nur Stadtgeschichte, die Hartwig seinen Zuhörern mit auf den Weg gibt, sondern auch die Lust, sich mal wieder etwas genauer anzuschauen, was einen eigentlich umgibt.
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