TXL zwischen Mittag und Mitternacht Von Ulli Kulke

Noch bei seiner großen Rede im Dezember war er großzügig. „Jetzt tun Sie, was Sie nicht lassen können“, meinte Erich Honecker zu seinen Richtern. Doch nun war auf einmal alles ganz anders: Ab zwölf Uhr mittags war der ehemalige Staatsratsvorsitzende frei. Alle Tore im Berliner Untersuchungsgefängnis Moabit standen ihm offen. Trotzkisten, Sozialisten, Aktivisten und Journalisten standen Spalier, um ihn zu begrüßen. Vergebens. Zellentrakt, 1. Stock: Ein Blick durch die Stahltür in Zelle 103 zeigte einen zufriedenen Mann. Erich Honecker saß zu Tisch. Er dachte gar nicht daran, hinauszutreten. Warum? War es der letzte Brathering mit Senfsoße? Waren es Bedenken, daß sich draußen zwischen die Bürger mit Winkelementen ein „Bonner Ultra“ gemischt haben könnte, der ihm, gedungen, wie sie alle nun mal sind, übel wollte? Oder hatte er, wie die Welt jetzt eigentlich erwartete, doch Angst vor Margot?

Nichts von alledem. Wie die taz nun von Rechtsanwalt Ziegler – er war halt doch der Medienfuchs unter Honeckers Beiständen – zuverlässig gesteckt bekam, hatte sich beim Brathering ein geradezu gespenstischer Dialog entwickelt. Die Anwälte wurden blaß, die Wärter tuschelten. Ziegler stocherte lustlos zwischen Gräten und Senf herum, vor ihm ein Stapel Flugtickets auf den Namen „Honecker Erich Mr.“, für die er nun seit Jahr und Tag vor des Gerichtes Schranken gekämpft hatte. Sein Mandant konnte wählen zwischen zehn verschiedenen Abflugterminen. Doch dieser – weigerte sich, auszureisen. Die Kürzel auf den Tickets, die Ziel und Stopover angaben, wären ein Traum gewesen für seine einstigen Arbeiter und Bauern: GIG (Rio), SCL (Santiago de Chile) – alles soweit o.k. für Honecker. Auch gegen MAD hatte er nichts einzuwenden, stand es doch nur ganz unverfänglich für Madrid. Eines aber konnte und wollte er nicht akzeptieren: TXL. Der Abflug-Airport, Berlin-Tegel – oder anders ausgedrückt: der Flughafen der selbständigen politischen Einheit Westberlin. Honecker stellte als Bedingung eine glasharte Alternative: Ausreise entweder über den Flughafen der Hauptstadt der DDR, Schönefeld (SFX), oder über seine Leiche. Sonst liefe eben gar nichts, und dann könnten sie ihn, bitteschön, an allen Vieren hinaustragen. „Warum, Herr Ziegler, haben wohl Zentralkomitee, Politbüro und alle anderen zuständigen Organe der DDR vier Jahrzehnte dafür gekämpft, daß kein Staatsbesuch, ob Kanzler oder König, über Westberlin in die Hauptstadt einreisen durfte?“ wurde es nun doch etwas lauter in Zelle 103. Wie er als Bundesbürger – was ihm übrigens sowieso nicht passe – dazu komme, über einen Flughafen irgendeiner selbständigen politischen Einheit außer Landes zu fliegen? „Also bitteschön, ändern Sie das da: TXL weg, und SXF rein“, brüllte er – „E-Punkt- H-Punkt“ rutschte es ihm noch heraus. Plötzlich fiel die Stahltür ins Schloß. Kein Laut drang mehr nach außen – fast zwölf Stunden lang. Es ist nicht einmal bekannt, was es zum Abendessen gab. Erst gegen Mitternacht stieg E.H. ins Flugzeug – in TXL und keineswegs als Leiche. Was war geschehen? Die Moabitastrologen dürfen mutmaßen.