THOMAS RUTTIG ÜBER WESTLICHE ERWARTUNGEN AN DIE FRIEDENSJIRGA IN KABUL : Karsais große Show
Die Friedensjirga, die heute in Kabul beginnt, wird ihr Hauptziel nicht erreichen: einen wirklichen nationalen Konsens über Gespräche mit den Taliban zu erzielen. Dafür fehlen zu viele relevante Kräfte – und wer doch kommt, sieht sich massiv kontrolliert und gegängelt. Ein Ende der Gewalt rückt damit nicht näher.
Oberflächlich betrachtet trägt die Jirga mit ihren 1.600 Delegierten alle Insignien der afghanischen „Stammesdemokratie“. Diese ist allerdings männlich dominiert – die Frauen konnten sich ihre 20-Prozent-Quote erst nach ausländischer Intervention erkämpfen. Turbanträger aus allen Ecken des Landes sorgen für eine Farbenpracht, die Pluralität vorspiegeln soll. Aber die wichtigste Oppositionspartei sowie Frauenrechtlerinnen boykottieren die Jirga, die sie als Teil einer Karsai-Legitimationsmaschinerie betrachten. Sie fürchten, dass „Gerechtigkeit“, etwa eine Aufarbeitung der Bürgerkriegsverbrechen, und Menschenrechte dem angestrebten Deal mit den Taliban geopfert werden könnten. Einen Pseudokonsens durchzudrücken schafft also eher neue Konflikte.
Das sollte Karsais Nato-Verbündeten zu denken geben. Die reden zwar im Brustton der Überzeugung von „roten Linien“, die nicht überschritten werden dürfen – vor allem müsse die Verfassung weiter gelten. Die aber haben sie selbst und Karsai im bisherigen „Friedensprozess“ zu oft zur Makulatur gemacht, als dass man solchen Beteuerungen glauben könnte.
Der Westen lässt sich angesichts allgemeiner Ratlosigkeit nur zu gern von Karsais Shows täuschen – seien es Wahlen oder Jirgas. Dass der Präsident endlich die Führung übernimmt, ist Voraussetzung, um den dortigen Schlamassel endlich hinter sich zu lassen. Wohin Karsai führt, scheint dabei zweitrangig. Die Reaktion im Westen wird zeigen, ob er mit seiner Scheindemokratie ein weiteres Mal durchkommt.
■ Der Autor bloggt unter www.aan-afghanistan.org zu Afghanistan
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