TARIFSTREIT: SOLIDARISCHE ARBEITSKÄMPFE GELTEN ALS UNSOLIDARISCH : Die Macht des Gartenzauns
„Tarifverhandlungen“ – das ist ein sperriges, hässliches und technokratisches Wort, das zudem gar nicht beschreibt, was eigentlich passiert. Tarifverhandlungen sind in Wahrheit gegenseitige Erpressungsversuche. Jetzt laufen sie in der Metallindustrie an. Die IG Metall fordert vier Prozent; die Arbeitgeber kontern mit einer Provokation: Sie bieten ganze 1,2 Prozent Gehaltssteigerung an – falls die Gewerkschaften gleichzeitig längere Arbeitszeiten ohne Lohnausgleich akzeptieren.
Wer erpressen will, braucht Macht. Das wissen alle IG-Metall-Mitglieder. Also werden sie streiken, wenn es keine Zugeständnisse gibt. Denn eine Gewerkschaft, die den Arbeitskampf fürchtet, kann man gleich vergessen. Es gibt keine Alternative zum Streik, wenn die Lohnangebote lächerlich sind. Das wiederum wissen die Arbeitgeber, die dennoch den Ausstand gelassen provozieren. In diesem Tarifkonflikt geht es ums Ganze: Da wird nicht nur eine Lohnrunde ausgehandelt; da wird für lange Zeit und symbolträchtig entschieden, wie mächtig die Gewerkschaften noch sind.
Es sieht nicht besonders gut aus für die IG Metall. Denn Streiks sind nicht nur ein Kampf zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern in den Firmen – sie waren immer auch gesellschaftliche Ereignisse. Doch die Stimmung hat sich gedreht, wie spätestens der Streik im Osten gezeigt hat. Der Kampf um die 35-Stunden-Woche wurde nicht in den Betrieben verloren, sondern am Gartenzaun. Die Nachbarn verstanden nicht, was die Metaller noch wollten: Sie haben doch wenigstens einen Job, während so viele andere arbeitslos sind.
Diese Stimmung hat sich längst verallgemeinert in Deutschland. Jobs werden zur Gnade – da erübrigen sich natürlich Lohnforderungen, wenn Almosen angeblich schon reichen. Zudem ist der Glaube unerschüttert, dass Lohndumping Stellen schafft. Das gilt in der Industrie zwar höchstens für unproduktive Randbereiche, aber egal. Die IG Metall ist mit einem Paradox konfrontiert: Solidarische Arbeitskämpfe gelten als unsolidarisch. Das wird irgendwann das Ende der Gewerkschaften sein. ULRIKE HERRMANN