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Archiv-Artikel

TAKE A WALK ON THE BREITSCHEID Die Berlin-Frage: Was wusste Lou Reed?

Von JUT

Es ist ein einziger Mythos um Lou Reed und Berlin. 1973 hat der am Sonntag Verstorbene der Stadt ein Album gewidmet, so viel steht fest. Aus eigener Anschauung aber kannte er sie noch gar nicht, heißt es, wobei sich da die Experten widersprechen. Unklar ist auch, wann dieses Foto entstand, das Reed beim Auftritt in der Charlottenburger Eissporthalle zeigt. Dass er aber mal mit den Herren Bowie und Pop in Schöneberg gelebt habe, hat er selbst einmal vehement bestritten: „Glaub nur die Hälfte von dem, was du liest.“ Vielleicht war er sich ja selbst nicht ganz sicher, ob er Berlin bereits besucht hatte.

Sicher ist nur: Auf „Berlin“, jenem Konzeptalbum über ein Loserpärchen mit Drogenproblemen, dichtet Reed über die Mauerstadt: „It was very nice / oh honey, it was paradise.“ Das Klavier stoppt, und Reed hält so bedeutungsschwanger inne, dass sich tatsächlich das ganze Berlin dieser Zeit in diesem einen Wimpernschlag widerzuspiegeln scheint: War es nicht doch die Stadt, die Hoffnung bringt? Trotz Inselgefühl, trotz Betonblocks, trotz aller Bulettenmentalität?

Sie war, sie war. Das zeigt sich in Reeds „Berlin“-Song, aber noch mehr in den elegischen Klavierklängen als etwa im recht simplen Versmaß. Obwohl, nimmt man Verse wie „In Berlin, by the wall / you were five foot ten inches tall / It was very nice / candlelight and Dubonnet on ice“, so scheinen auch diese Zeilen eine Ode an das Schlichte der Stadt zu sein. Berlin, du große Unvollkommene!

Nach gegenwärtiger Quellenlage also scheint Lou Reed ein Seher gewesen zu sein. Er wusste von diesem preußischen Paradies, ohne je Berliner Boden betreten zu haben. Dass das ganze Album aber „one of the most depressing records ever made“ war, wie Musikkritiker seinerzeit anmerkten, das ist ja wohl sonnenklar: Wo kein schwarz, da kein weiß, wo kein Dionysos, da kein Apollon. Wie auch immer: Das damals verschmähte „Berlin“ zählt nach dem Ranking des Rolling Stone trotzdem zu den besten 500 Alben aller Zeiten. JUT Foto: AKG/picture-alliance