piwik no script img

Symbolfigur Juliano Mer-ChamisWenn die Hoffnung stirbt

Der Mord am Direktor des Friedenstheaters im Flüchtlingslager Dschenin im Westjordanland trifft viele Palästinenser hart. Doch Juliano Mer-Chamis war auch umstritten.

Abschied von Juliano Mer-Chamis: Viele Palästinenser trauern um den erschossenen Gründer des Friedenstheaters in Dschenin. Bild: dpa

DSCHENIN taz | Der junge Mann lässt seinen Tränen freien Lauf. In sich zusammengesunken sitzt er vor dem Theater der Freiheit im Flüchtlingslager von Dschenin und trauert um seinen Lehrer. Juliano Mer-Chamis, Gründer des Theaters, war am Vortag erschossen worden. Bis Dienstagnachmittag herrschte Rätselraten über die Motive des Täters, der flüchten konnte.

"Wir waren mitten in den Proben, als wir die Schüsse hörten", berichtet Stefan Wolf-Schönburg, Schauspiellehrer aus Deutschland. Die fünf aus kürzester Entfernung abgeschossenen Kugeln töteten Mer-Chamis sofort. Er war eben aus seinem Auto gestiegen, in dem noch sein zehnjähriger Sohn saß. Der Mörder sei zu Fuß geflohen, meint Wolf-Schönburg. "Es sind ihm noch ein paar Leute gefolgt."

Überall an den Wänden im Vorhof des Theaters hängen die Bilder des charismatischen, verehrten, aber auch umstrittenen Schauspielers. "Jul ist verrückt gewesen", sagt ein etwa Zwölfjähriger, der in ein paar Metern Abstand zum Theater mit einem Freund spielt. "Ich bin froh, dass er tot ist, denn er war ja Jude."

Nicht nur aufgrund seiner jüdischen Abstammung hassten ihn seine Feinde. Mer-Chamis scheute die Auseinandersetzung nicht. Er verurteilte die israelische Besatzungspolitik mit unverhohlener Abscheu und ging sogar so weit, Terror zu rechtfertigen. Sein bester Freund ist wohl Sakarija Sbeide, einst Kommandant der Al-Aqsa-Brigaden in Dschenin und verantwortlich für Dutzende terroristische Attentate gegen Israel.

Unter den Palästinensern galt Mer-Chamis bisweilen als hochmütig und arrogant, außerdem war er auch mit den Stücken, die er die jungen Palästinenser spielen ließ, nicht selten provokativ. Zu den letzten Theaterproben, die er betreute, gehörte die Pubertätstragödie "Frühlings Erwachen" von Frank Wedekind.

Nabil al-Rai, Chef der Schauspielschule, glaubt nicht daran, dass das Theaterstück Grund für den Mord gewesen ist. "Wir haben alle unsere Stücke der Umgebung und dem üblichen Verhaltenskodex angepasst", sagt er, sichtlich übermüdet und blass. "Auf der Bühne ist nicht von Homosexualität gesprochen worden, noch gab es leicht bekleidete Schauspieler." Trotzdem habe das Theater eine neue Kultur schaffen wollen, den Anfang einer Veränderung. "Das haben die Leute nicht verstanden, die zweimal versucht haben, das Theater in Brand zu stecken."

Sohn zweier Kommunisten

Immer wieder gab es telefonische Drohungen gegen die Mitarbeiter des Freiheitstheaters. Dennoch rechnete niemand mit konkreter Gewalt. "Wir hatten nicht das Gefühl einer echten Bedrohung", sagt der Schauspiellehrer, der seit sechs Jahren auch im selben Haus lebte wie sein streitbarer Freund.

Der Sohn zweier Kommunisten, der jüdischen Arna Mer und des arabisch-christlichen Saliba Chamis aus Nazareth, zog vor knapp sieben Jahren ins Flüchtlingslager von Dschenin. Bis dahin hatte es der 1958 in Nazareth geborene Schauspieler schon zu einigem Ruhm in Israel gebracht. Er hatte in Kino- und Fernsehfilmen mitgespielt und bei mehreren Stücken am Habima-Theater in Tel Aviv.

Mit der Gründung des Friedenstheaters, als dessen Direktor er bis zum Schluss fungierte, folgte er dem Beispiel seiner Mutter, die während der Ersten Intifada das "Steintheater" gründete, um die traumatisierten Jugendlichen im Flüchtlingslager von der Straße und vor allem weg von der Gewalt zu holen. Die Räume befanden sich zu Beginn im Haus der Familie von Sakaria Sbeide. Im Frühjahr 2002 ist das Theater während der israelischen Invasion zerstört worden. Vier Jahre später, Julianos Mutter war inzwischen verstorben, hob sich im Friedenstheater zum ersten Mal der Vorhang.

Im Saal wirft ein Diaprojektor Bilder von Mer-Chamis an die Leinwand auf der Bühne. Mal sieht man ihn im Gespräch mit Kindern, mal glücklich lächelnd im Kreise seiner Freunde. So kritisch, wie viele gegen ihn eingenommen sein mögen, so hatte er doch zahlreiche Freunde und Bewunderer auf beiden Seiten der Grenzanlagen.

Ein paar hundert Menschen versammeln sich am späten Vormittag im Theater, Schüler, Freunde, Kollegen, Journalisten. Hier und dort wird die Sorge laut, was jetzt aus dem Theater werden wird. Mer-Chamis hatte einen internationalen Ruf, der dem Theater finanzielle Unterstützung garantierte und auch die Möglichkeit, von Zeit zu Zeit auf Tournee zu gehen.

Einige Leute weinen, als Sakaria Sbeide auf der Bühne steht und sich bei der Familie des Toten entschuldigt, bei dessen erster Frau Mischmisch und Mutter seiner zwei Töchter und bei dessen zweiter Frau Jenny, gerade Anfang 30, mit der er einen Sohn hat und die mit Zwillingen hochschwanger ist: "Ich will euch allen sagen: Es tut mir so leid."

"Arroganter Ansatz"

Auch Sbeide, der als Wachmann am Theater arbeitet, konnte seinen Freund nicht retten. Bis heute genießt er großen Einfluss unter den Kämpfern der Zweiten Intifada. "Wir suchen zusammen mit der Polizei nach dem Täter dieses feigen Verbrechens", sagt er und weigert sich, über eventuelle Motive zu spekulieren. Dabei kursierten bis zum Nachmittag schon zahlreiche Gerüchte.

Mer-Chamis habe sich mit seinem "arroganten Ansatz die Palästinenser Kultur lehren zu wollen", unbeliebt gemacht, spekulierte die arabisch-israelische Musiklehrerin Wafa Junis. In Dschenin heißt es, er sei Opfer parteipolitischer Machtkämpfe geworden, und im Radio war gar von Mord vor dem Hintergrund der Familienehre die Rede.

"Für mich war er wie ein Vater", sagt der 22-jährige Momen Suetat, einer der Schüler von Mer-Chamis, "denn er hat mir beigebracht, wie ich alles von mir werfen kann, wie ich meine Umgebung riechen kann und wie ich Musik höre." In den letzten Monaten sei er täglich mit Mer-Chamis und sechs Freunden aus seiner Gruppe, darunter drei junge Frauen, zum Frühsport aufgebrochen. "Jeden Morgen, ab 8.30 Uhr ging es für ein bis zwei Stunden zum Joggen auf die Berge in der Umgebung." Der strenge Lehrer sei der Ansicht gewesen, dass nur harte Arbeit echte Befriedigung bringen kann. "Was leicht kommt, verschwindet ebenso schnell wieder", zitiert Suetat traurig seinen Lehrer.

Drei Jahre lang besuchte der junge Palästinenser den Schauspielunterricht mit dem festen Ziel, es einmal auf internationale Bühnen zu schaffen. Mer-Chamis habe ihn dabei ermutig. Er solle nach London gehen oder nach Paris, um die Commedia dellArte zu studieren. Ohne ihn werde es jetzt viel schwerer, aus dem Flüchtlingslager herauszukommen: "Juliano war für uns die Hand nach draußen."

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

6 Kommentare

 / 
  • V
    Vanessa

    Wir trauern um einen der mutigsten und idealistischsten Menschen- der Gutes wollte und Gutes erreicht hat. Ich stimme Katja zu: Es gibt keine Endschuldigung für diesen Mord. Es gibt keine plausible Erklärung! Es ist fürchterlich. Und ich hoffe so sehr, dass das nicht das Ende einer Bewegung ist, die er jahrelang vorbereitet hat und die in den letzten Jahren verblüffende Ergebnisse gebracht hat. Ich bin dankbar Ihn kennengelernt zu haben und entsetzt über dieses Verbrechen!

  • R
    refugee

    zwischen allen stühlen sitzend, fiel er hindurch. beinah bin ich geneigt zu meinen, dass der mord an mer-khamis ein böses omen ist. gerade menschen wie er einer war, werden doch so dringend gebraucht- mutige akteure zwischen den fronten als vermittler, brückenbauer, hoffnungsträger. was bleibt ist verzweiflung, und kein ende ist in sicht.

     

    @swanni

    stuss hoch 10, deine absonderung.

     

    "Wie in anderen Palästinensergebieten hat sich die Lebenssituation der Bevölkerung seit Ausbruch der Al-Aqsa-Intifada im Jahr 2000 erheblich verschlechtert. Sie leidet unter der Abriegelung der Gebiete, viele Gebäude sind zerstört, die Arbeitslosigkeit ist hoch (etwa 80 %)."*

     

    aber so ist das halt "in islamischen ländern" ...

     

    *http://de.wikipedia.org/wiki/Dschenin.

  • K
    Katja

    Es gibt keine Entschuldigung für diesen Mordanschlag, was immer sich im Lauf der Untersuchung für Beweggründe herausstellen mögen. Zum Artikel sei eine Korrektur gestattet: das Projekt im Jeniner Flüchtlingslager heißt Freedom Theater - Theater der Freiheit, nicht des Friedens, wie es hier genannt wird - und der Name war sicher mit Bedacht gewählt.

  • Q
    QuiBono

    Sehr geehrte Frau Knaul,

     

    ihr Artikel wird der Arbeit und der Bedeutung von Juliano Mer-Chamis nicht gerecht.

     

    Was und wen nützt es, Mutmaßungen, Vermutungen, Gerüchte zu kolportieren und ihn in die Nähe zu Terroristen zu rücken. So kommt die Taz langsam auf Bild-Zeitungsniveau.

     

    Die Berichterstattung zu dem Mord und zur Bedeutung von in der Haaretz ist bei weitem sachlicher und klarer.

  • S
    Swanni

    Tja, so ist das halt inislamischen Ländern.

  • E
    esti

    Liebe Taz,

     

    ich lebe seit Jahren in Palästina und kann Ihnen sagen, dass Juliano sicher nicht bei vielen verhasst war. Und erst Recht nicht, weil er Jude war. Ich war heute im Flüchtlingslager in Jenin und ich hätte lange suchen müssen um dort mal jemanden zu finden, der sich freut dass Juliano ermordert wurde. Alle Freunde, Bekannten und Kollegen aus sämtlichen Kreisen sind fassungslos, wir können unseren Verlust gar nicht glauben, wir sind wütend, und traurig. Wir schicken uns seit gestern Nachrichten, sms, emails, treffen uns und trauern miteinander, tauschen Notizen aus, wir können es nicht glauben. Wenn Sie im Jenin Flüchtlingslager waren, hätten Sie gesehen, dass Juliano eine so betörende Wirkung auf die Kinder und Erwachsenen hatte, wie sonst nur wenige. Freedom Theatre, Jenin und die Menschen in Palästine trauern.