Suizid im Alter: Härtere Methoden als bei Jüngeren
Während die Suizidquote sinkt, steigt sie bei Alten exponentiell an. Besonders betagte Männer sind gefährdet. Eine Ursachenforschung wird erst seit kurzem intensiver betrieben.
Nur noch vier Tage waren es bis zu Antonias* Hochzeit. Sie wusste bereits, dass sie schwanger war. Ihr Großvater sollte beim großen Fest dabei sein, obwohl ihre Großmutter wenige Monate zuvor an Brustkrebs gestorben war. Die Großeltern nahmen in Antonias Leben eine bedeutende Rolle ein. Doch die Vorfreude wich dem Schock. "Mein Großvater erschoss sich mit einer Feuerwaffe. Irgendetwas hatte einen Schalter in seinem Kopf umgelegt", erzählt sie auf einem Suizidforum in Internet. "Er litt unter Depressionen."
Zahlen: Laut den jüngsten Zahlen des Statistischen Bundesamt töteten sich in Deutschland im Jahr 2007 9.402 Menschen. Das sind etwa doppelt so viele wie jedes Jahr durch Autounfälle ums Leben kommen. Von den 9.402 Menschen war jeder Dritte älter als 65 Jahre. Zwei Drittel davon waren Männer. Die Anzahl der Suizidversuche ist in allen Altersgruppen um ein Zehnfaches höher als die Suizide. Die Suizidversuchshäufigkeit ist vor allem in jüngeren Altersgruppen am höchsten.
Geschlechterverhältnis: Die höchste Suizidrate weisen Männer auf, die älter als 75 Jahre sind. Deren Suizidrate ist viermal höher als im Durchschnitt. Besonders gefährdet sind hochbetagte Witwer, die sozial isoliert leben und sich von ihrer Umwelt entfremden. Auch chronische Schmerzen, Verlust der Selbstständigkeit und Depressionen tragen zur Lebensmüdigkeit bei.
Prävention: Experten sagen, alte Menschen senden Hinweise aus, wenn sie sich umbringen wollen. Ältere Frauen und Männer machen direkte Andeutungen, dass sie Suizid begehen wollen. Zugleich zeigen sie häufig auffälliges Verhalten: Sie reagieren ungewöhnlich aggressiv, ziehen sich aus Freundschaften und familiären Beziehung zurück. Psychologen interpretieren das oft als Hilferuf. Sie empfehlen das offene Gespräch mit suizidalen älteren Männern und Frauen.
Antonias Großvater war 76 Jahre alt, einsam, alkoholabhängig. Damit gehörte er einem Teil der Bevölkerung an, in dem sich viermal so viele Menschen das Leben nehmen wie im Durchschnitt. Männer über 75 Jahren begehen am allerhäufigsten Suizid. Im Jahr 2004 töteten sich in Deutschland etwa 55 Männer dieser Altersgruppe pro 100.000 Einwohner, stellten die Weltgesundheitsorganisation fest - viel mehr als in den meisten west- und südeuropäischen Ländern.
"Die Menge der Selbsttötungen unter alten Menschen steigt exponentiell", sagt Manfred Wolfersdorf, Experte für Suizidprävention und Chefarzt der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Bezirkskrankenhauses in Bayreuth. Obwohl sich in Deutschland insgesamt immer weniger Menschen das Leben nehmen, steigt seit Jahren der Anteil der Hochbetagten. Die jüngsten Zahlen des Statistischen Bundesamtes von 2007 beweisen: Von den 9.402 Menschen, die sich in Deutschland umbrachten, ist mehr als jeder Dritte älter als 65. Zwei Drittel dieser knapp 3.400 alten Menschen waren Männer.
Wie viele Selbstmordversuche unter alten Leuten jährlich zu verzeichnen sind, ist unbekannt. "Darüber gibt es keine Forschungen", berichtet Wolfersdorf. Aber wie alte Menschen sich das Leben nehmen, ist kein Geheimnis - eher ein Tabu. "Sie wählen deutlich härtere Methoden als jüngere Menschen. Vor allem Männer erhängen oder erschießen sich, stürzen sich vor Züge oder springen aus großer Höhe. Frauen dagegen vergiften sich häufig", erklärt Wolfersdorf. Generell beobachten Fachleute, dass die Entscheidung für den Suizid bei Alten anders erfolgt als bei Jungen: schneller, und die Art und Weise des Tötungsversuchs ist meistens wohlüberlegt. Eine Rettung nach der Tat soll möglichst ausgeschlossen werden.
Was treibt alte Menschen in den Suizid? "Ohne meine Frau hat das Leben keinen Sinn mehr für mich", sagt ein 70-Jähriger, der anonym bleiben will. Seine Frau ist an Krebs erkrankt. Reinhard Lindner, Psychotherapeut und Neurologe am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, kennt solche Aussagen: "Vereinsamung und Isolation tragen zu einem Suizid im Alter bei." Experten des Nationalen Suizidpräventionsprogramms für Deutschland, das seit 2004 existiert, fanden zudem in zahlreichen Patientengesprächen heraus, was weitere Motive für Selbsttötungen alter Menschen sind: Nicht wenige wollen ihren Angehörigen nicht als Pflegefall zur Last fallen - oder sie plagen sich mit chronischen Schmerzen.
"Wenn sich ein älterer Mensch in seinem Selbstwertgefühl gekränkt fühlt oder von Entscheidungsprozessen ausgeschlossen wird, kann das zur Selbsttötung motivieren", sagt Martin Teising, Psychotherapeut und Professor für Gerontopsychiatrie an der Fachhochschule Frankfurt. Bei Älteren könne sich das Gefühl des Verlustes ganz unterschiedlich und individuell ausdrücken. Manche fänden ihr Leben wertlos, sobald sie nicht mehr über ihr Geld verfügen könnten. Andere glaubten, nicht mehr attraktiv zu sein. "Alte Menschen haben in ihrem Leben einen Verlust nach dem anderen hinzunehmen. Gerade sehr alte Menschen mit Suizidwünschen blicken zurück und setzen sich mit der Schuld auseinander, die sie empfinden", berichtet Angela Hofmeister vom Berliner Krisendienst.
Die meisten solcher Selbstmordgefährdeten hoffen auf Hilfe, wenn der Wunsch zu sterben Gestalt annimmt. Bei Pascal E.* war die Todessehnsucht dermaßen real, dass er in die Klinik eingewiesen werden musste. "Ich hatte Angst und das Gefühl, verloren zu sein", beschreibt er seinen inneren Zustand, als er das erste Mal den Wunsch verspürte, aus dem Leben zu scheiden. Was hatte diesen Wunsch in dem 68-Jährigen ausgelöst?
"Im Januar sagte die Wetterprognose minus 26 Grad voraus. Und ich machte mir Gedanken, ob das die Heizungsanlage in meinem Reihenendhaus schaffen würde." Im Fall eines Schadens sei für ihn immer klar gewesen: Das kannst du selbst reparieren, wenn so etwas passiert. "Aber plötzlich war ich überfordert." Pascal verspürte keinen Antrieb mehr, ein solches Problem zu lösen. "Mir war mulmig zumute, ich hatte Angstzustände." Erstmals spürte er, wie lebensmüde er war. Den Wunsch, zu sterben, artikulierte er weder gegenüber seiner Frau, mit der seit 36 Jahren verheiratet ist, noch teilte er ihn seinem 34-jährigen Sohn mit. "Ich hatte außerdem keine Vorstellung, wie man einen Selbstmord begeht." Da Pascal E. zu diesem Zeitpunkt bereits allgemein unter schweren Depressionen litt, entdeckten Hausärzte, seine Familie und Freunde die Symptome rechtzeitig.
"Depressive Erkrankungen sind die entscheidenden Faktoren bei Suiziden, egal ob bei Jungen oder Alten", sagt Ulrich Hegerl, Sprecher der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie am Uniklinikum Leipzig. Depressive Menschen empfänden bei positiven Erlebnissen keine Freude mehr. Und: "Bei Älteren kommt es vor, dass sie sich selbst ausschließlich als Belastung für die Familie ansehen", sagt Hegerl.
"Die Ursache für Depressionen im Alter liegt im Wechselspiel von Lebensgeschichte und Veränderungen von Botenstoffen im Gehirn", sagt Michael Rapp. Der Oberarzt leitet die Arbeitsgruppe Gerontopsychiatrische Forschung an der Berliner Charité und untersucht den Stoffwechsel in Gehirnen alter Menschen. Er stellt fest: Oft fehlen in bestimmten Bereichen des Gehirns die Botenstoffe Neurotrophine. Sie befähigen Gehirnzellen dazu, sich zu regenerieren. Dann können sie Informationen wieder besser verarbeiten. Stress kann die Produktion dieser Botenstoffe unterbinden. Ziehen alte Menschen zum Beispiel ins Altenheim und verlieren den Kontakt zu vertrauten Menschen, kann das ein Stressfaktor sein. Das Risiko, an einer Depression zu erkranken, steigt. Und dann können auch schnell Selbstmordgedanken entstehen.
Aber Rapp hat noch eine andere Beobachtung gemacht: "Bei Männern steigt die Suizidrate mit zunehmendem Alter, aber die Fälle von Depressionen nehmen nicht zu. Andere Faktoren, die zum Alterssuizid führen, sind offenbar mitunter entscheidend."
Welche genau das sind, ist individuell verschieden und teilweise noch ungeklärt. Eine Ursache dafür ist unter anderem, dass Fachleute in Deutschland erst seit einigen Jahren intensiver als früher auf dem Gebiet des Alterssuizids forschen. Den jüngsten Beitrag zu mehr Erkenntnissen leistete kürzlich eine Forschergruppe des Uniklinikums Hamburg-Eppendorf mithilfe der Robert Bosch Stiftung. Im Hamburger Zentrum für Geriatrie und Gerontologie am Albertinen-Haus und am Therapiezentrum für Suizidgefährdete wurden 40 Patienten untersucht. Reinhard Lindner, Psychotherapeut und Neurologe, stellte mit seinen Kollegen fest: Suizidgefährdete, alte Menschen teilten in strukturierten Interviews mit, dass Beziehungskonflikte mit dem Partner oder Familienangehörigen eine herausragende Rolle spielen. "Suizidale befinden sich in einem Dilemma. Oft leiden sie an den Beziehungen zu nahestehenden Menschen, aber diese Menschen sind zugleich lebensnotwendig", erklärt Reinhard Lindner. Die Ambivalenz dieser Beziehungen hat Folgen für die Präventionsarbeit. Denn Ältere würden lieber mit ihren Angehörigen als mit professionellen Therapeuten über ihre Selbsttötungsabsichten sprechen. "Der Wunsch alter Menschen, darüber zu reden, ist real. Ihre engsten Bezugspersonen sollten keine Angst haben, schlafende Hunde zu wecken", sagt Lindner. Betroffene seien dafür dankbar und würden entlastet. "Das offene Reden über Suizid im Alter muss gesellschaftlich künftig anders vermittelt werden", sagt Lindner.
Es gibt Hinweise darauf, dass depressive Symptome und die Neigung zu Alterssuizid auf die nachfolgende Generation übertragen werden. Fachleute stellten fest: Ein vollzogener Suizid löst seelisches und körperliches Leid bei den Hinterbliebenen aus. "Es gibt erhöhte Suizidraten unter Angehörigen von Menschen, die sich selbst getötet haben", sagt Martin Teising.
*Namen von der Redaktion geändert
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen