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Archiv-Artikel

Südfrüchte im Gral

Ein Mann verschwindet wie vorher ganze Völker: Jens Sparschuhs Roman „Eins zu eins“

Ein Vorhang von fremden Ortsnamen auf -ow oder -itz trennt Ost- und Westdeutschland ungefähr dort, wo vor der Wende der Eiserne Vorhang verlief. Viel mehr ist von den bis ins späte Mittelalter dort siedelnden slawischen Stämmen nicht geblieben. Ob Obotriten, Spreewanen oder Heveller: Der Osten wurden von den westdeutschen Einwanderern so erfolgreich absorbiert, dass selbst Archäologen ratlos sind. Jens Sparschuh, der schon immer gerne Geschichten mit Geschichte vermischt hat, nutzt diesen historischen Untergrund für seinen neuesten Roman „Eins zu eins“.

Olaf Gruber, Sparschuhs Held, ist ein Ostdeutscher mit besonderem Interesse für Regionalgeschichte. Einige Jahre nach der Wende landet Gruber bei der Firma AndersWandern, die Landkarten und Reiseführer für alternativen Tourismus produziert. Neben Wenzel, dem letzten Überbleibsel eines übernommenen DDR-Touristikverlages, ist Gruber der einzige Ostdeutsche. Wenzel, dessen Spezialgebiet die slawische Vergangenheit ist, verschwindet während eines Rechercheauftrages spurlos in Brandenburg. Die Firmenchefin schickt Gruber auf dessen Spuren: Ossi sucht Ossi in Ossiland. Damit ist der Rahmen gesteckt für einen Roadmovie-ähnlichen Plot, der in die zweifach überformte Landschaft von Wenden und Wende führt.

Akribisch sind auf den Planquadraten der von Wenzel zurückgelassenen DDR-Karten mittelalterliche Kirchen markiert, die als Zeichen der Eroberung auf dem Grund von heidnischen Tempeln gebaut wurden. Diese spirituelle Rasterfahndung hat offenbar ein Ziel: Wenzel ist auf der Suche nach Rethra, dem zentralen Heiligtum der Wenden. Da der Überlieferung zufolge Rethra nie gefunden wurde, könnte der mystische Nabel ostelbischer Identität noch immer irgendwo verborgen liegen.

Ein Hauch der Nebel von Avalon wabert über dem märkischen Streusand. Doch statt auf einen heiligen Gral stößt Gruber auf die Spuren jener unmittelbaren Vergangenheit, in der sich die Sehnsüchte der Menschen eher um unerreichbare Südfrüchte drehten. Sparschuhs Held dringt in das Allerheiligste von Datschenbesitzern vor und wird eingeweiht in die Geheimnisse der Baustoffversorgung zu Ostzeiten. Wenzel jedoch bleibt verschollen. Einer der kauzigen Brandenburger Originale bringt beim Smalltalk am Jägerzaun die Absurdität der Suche auf den Punkt: „Es verschwinden ganze Völkerschaften von der Landkarte, warum soll da nicht auch mal ein einzelner Mann verschwinden können? Spurlos.“ Mehr und mehr betreibt Gruber die Archäologie der eigenen Biografie, die untrennbar mit der DDR-Vergangenheit verbunden ist.

Sparschuhs Geschichte einer mitteldeutschen Gralssuche, die im Privaten endet, ist ein überfälliger Kommentar zu den merkwürdigen Gespinsten der Ostidentität, die seit 1990 in den Köpfen des Wendevolkes zwischen Kap Arkona und Zittau zu finden sind. Das utopische Potenzial der Ostalgie, darauf weist „Eins zu eins“ nachdrücklich hin, entsteht ähnlich wie die Aura des Nirgendortes Rethra hauptsächlich durch die Vorstellungskraft von Menschen, die glauben möchten.

Jens Sparschuh: „Eins zu eins“, Kiwi, Köln 2003, 427 S., 22,90 €