: Sucht und Sehnsucht
■ taz-Serie Grenzgänger, Teil 8: Von der Hure zur Streetworkerin – Domenica Niehoff Von Patricia Faller
Genau wir der kleine Oskar Matzerath aus Günter Grass' Blechtrommel hätte auch Domenica Niehoff den Mutterleib am liebsten nicht verlassen. „Ich wußte die Welt da draußen wird schrecklich.“ Und diese „angeborene“ Illusionslosigkeit „hat mich gerettet.“
Domenica Niehoff blickt auf 50 Jahre ihres Lebens zurück, geprägt von Sehnsucht, Sucht und Prostitution, in denen sie nie daran geglaubt hat, daß das Leben irgendwann mal besser werden könnte. Und einfach wurde es wirklich nicht.
Selbst einst tabletten- und alkoholabhängig, berät sie heute drogenabhängige Prostituierte. Grenzen überschritten hat sie viele in ihrem Leben. Die erste vom weltfremden, nüchternen Waisenhaus ins Prostituiertenmilieu mit Tablettensucht und Alkoholexzessen. Bis sie diesen Mann kennenlernte, der „drauf war“ hatte sie noch keinen Tropfen Alkohol getrunken.
Da war sie 17 Jahre alt. Fasziniert von seinem Charme und seinem guten Aussehen, seinem Mercedes und seinem Geld, verliebte sie sich in einen Puffbesitzer. „Er war ein ganz toller Mensch. Aber wenn er getrunken hatte, dann wurde er gewalttätig.“ Nahm er Tabletten, war er zwar friedlich, lallte aber nur so vor sich hin. Die teuren Kleider, die er ihr schenkte, riß er der jungen Frau im „Suff“ wieder vom Körper. Dennoch blieb sie zehn Jahre bei ihm – aus Existenzangst und Unselbständigkeit: „Er hat nicht zugelassen, daß ich arbeitete und mich so von sich und seinem Geld abhängig gemacht.“
Um die Schläge und seine Exzesse zu ertragen, hat sie selbst angefangen zu trinken und Tabletten zu nehmen. „Später hat es ihm leid getan, daß er mir die erste Tablette gegeben hat,“ erklärt sie sich die Tatsache, daß er sie in Entzugskliniken mitnahm. „Mir ging's da immer blendend“, erzählt sie. Sie mochte die Leute dort. Süchtige Ärzte und Apotheker waren darunter: „Das waren eben auch Grenzgänger – nicht so langweilig, wie der Rest der Welt.“
Die Aufenthalte in Entzugskliniken sollten ihr für den Umgang mit ihrer eigenen Sucht und für ihre Arbeit mit Drogenabhängigen später eine große Hilfe sein: „Ich hab' die anderen beobachtet, wie sie da wieder rauskommen; man hört von heute auf morgen auf, fällt dann erst einmal in ein tiefes Loch aus Depressionen, und bis man das Vakuum wieder aufgefüllt hat mit anderen Dingen – das dauert.“
Ein Schockerlebnis, das sie wachrüttelte war für Domenica Niehoff der Selbstmord ihres Freundes. Plötzlich wurde ihr klar, daß sie ihr Leben selbst in die Hand nehmen mußte. Aber wie? Immer suchte sie den starken Mann, der alles für sie regelte. „Wenn ich einen Mann hatte, hörte ich auch auf zu trinken und Tabletten zu nehmen“, beschreibt sie ihre Sucht. Um die Sehnsucht nach Liebe zu ertränken, schüttete sie sich zu.
Doch irgendwann wurde ihr klar: „Ich darf mich nicht selbst zerstören, weil ich Liebe will und weil die Welt nicht so ist, wie ich sie gerne hätte.“ Diese Einsicht versucht sie heute als Streetworkerin weiterzugeben.
Vor rund acht Jahren hat sie den Tabletten abgeschworen. Alkohol trinkt sie zwar immer noch gerne, aber sie kann jederzeit damit aufhören. Sagt sie. „Ausdauer“, „Zähigkeit“ und „Kampfgeist“ – Eigenschaften, die dazu notwendig seien, habe sie im Waisenhaus entwickelt. Doch bei der „heutigen Jugend“ vermisse sie diese Dinge: „Die können nicht kämpfen, wollen immer alles direkt und zwar sofort. Der lange Leidensweg bis zum Clean-Sein ist ein Horror für die.“
Bei ihrer Arbeit mit den Abhängigen stieß sie immer wieder an ihre eigenen physischen und psychischen Grenzen. Zuviel „Power“ hatte sie investiert. Am Anfang wollte sie stärker als die Drogenabhängigen selbst, daß sie von der Nadel loskommen. Bis die Streetworkerin einsah, daß die Junkies den Willen alleine aufbringen müssen – und nicht sie stellvertretend.
„Zuerst wollte ich noch alles und alle retten. Das geht nicht. Dabei geht man nur ein. Jetzt will ich nur noch helfen.“ Als sie das begriffen hatte, wurde die Arbeit leichter.
Schwer macht ihr Leben heute eine andere Grenzüberschreitung: von der kleinen Prostituierten zu „Deutschlands bekanntester Hure“, zu der sie die Medien gemacht hätten, wie sie meint.
taz -Serie, Teil 9: Arbeitsalltag im Kugelhagel. Der Weltspiegel-Moderator Winfried Scharlau über das Berichten aus Krisengebieten. Dienstag, 22. August.
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