■ Studie über das Zeitbudget von Landtagsabgeordneten: „Völlegefühl und Magenschmerzen“
Hannover (taz) – Wie die Tiere müssen sie ackern, ihr Beruf ist hochgradig gesundheitsgefährdend und läßt ihnen nicht mal Zeit zum Nachdenken. Die Einführung der 6-Tage-Woche – so heißt es in der Studie – wäre für die meisten von ihnen ein wirklicher Fortschritt. Die Rede ist von den VolksvertreterInnen.
Zwei Arbeitswissenschaftler und ein Psychologe der Universität Hannover haben jetzt endlich den Beruf des Landtagsabgeordneten zum Gegenstand empirisch-sozialwissenschaftlicher Forschung erhoben. Das Ergebnis der detaillierten Zeitbudgeterhebung von 102 der 155 Landtagsabgeordneten muß jedem niedersächsischen Volkswagen-Arbeiter mit seinen schlappen 28,5 Stunden an vier Wochentagen die Schamröte ins Gesicht treiben: 77 Stunden beträgt demnach die Wochenarbeitszeit des durchschnittlichen niedersächsischen Volksvertreters. Die CDU-ParlamentarierInnen haben 75 Wochenstunden in die Fragebögen eingetragen, die Sozialdemokraten 77 Stunden, und die brutal selbstausbeuterischen Grünen kommen gar auf 83 Stunden die Woche.
Die meisten Abgeordneten litten unter „einem erheblichen Bewegungsmangel“, obwohl sie mit dem Auto jährlich 50.000 bis 70.000 Kilometer zurücklegen. „Obwohl Abgeordnete geschäftig wirken“, heißt es weiter, besteht ihre Haupttätigkeit darin, an „Sitzungen in Arbeitskreisen, Fraktionen, Ausschüssen, Kuratorien, Präsidien, Vorständen, Diskussionsrunden“ teilzunehmen. Abgeordnete essen unregelmäßig und vor allem abends übermäßig viel. Die Strafe folgt für die meisten auf dem Fuße – in Gestalt von „Völlegefühlen und Magenschmerzen“.
Für gesundheitlich bedenklich hielten die Befragten auch ihren Alkoholkonsum. Politikerinnen und Politiker, die bei Empfängen, Jubiläen und Vereinsfesten nicht mittrinken, würden als fade Moralisten gelten, entschuldigten sie ihren Hang zur deutschen Volksdroge.
Bei solcherlei Lebenswandel „fehlt die Zeit und die Kraft zum Nachdenken“. Täglich verfolgen die Abgeordneten die Nachrichten in Fernsehen und Presse, aber mehr als drei Bücher im Jahr lesen nur ganz wenige, und ebensowenige nehmen an Weiterbildungsveranstaltungen oder Seminaren teil. Diesem Mangel an Selbstreflexion und Bildung enspricht das Niveau der Debatten im Hannoverschen Leineschloß: Auch die Abgeordneten halten die Plenarsitzungen „für reine durch unerhörte Langeweile geprägte Schauveranstaltungen“ und fühlen sich „oftmals als Stimmvieh“. Bleibt nur die Frage, warum die Damen und Herren Abgeordneten bei solcherlei Elend unbedingt wiedergewählt werden wollen? Von den Diäten schweigt die Studie, aber sie nennt Eitelkeit und die „Lust an der Selbstdarstellung“ als Gründe.
Für die Arbeitswissenschaftler trägt der Beruf des Parlamentariers, wie kaum ein anderer, „die Gefahr der Deformation in sich“. Als Mittel dagegen empfehlen sie eine Arbeitszeitverkürzung – zunächst die Sechs-Tage-Woche: „Durch mehr Zeit zum Nachdenken gewinnt die gesetzgeberische Arbeit höchstwahrscheinlich an Qualität“, steht in dem Bericht.
Eins ist allerdings merkwürdig: „Ich sitze jetzt immer da ganz allein im vierten Stock“, sagte am Freitag die Grünen-Pressesprecherin, die in den Fraktionsräumen im Landtagsneubau die Stallwache spielen muß. Nur der bekanntermaßen sehr ambitionierte Abgeordnete G. schaue noch manchmal herein. Aber von Mitte Juni bis Mitte August sind eben Parlamentsferien, und die Arbeitswissenschaftler haben das Zeitbudget des Monats November erhoben. Jürgen Voges
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