Studie der Heinrich-Böll-Stiftung: Tellerwäscher wird kein Millionär
Zementiere Gesellschaft: Um Karriere zu machen, kommt es in Deutschland vor allem auf die Herkunft an. Selbst das klassenbewusste England ist durchlässiger.
BERLIN taz | Die meisten Deutschen glauben an den Aufstieg: In Umfragen geben 70 bis 80 Prozent der Bundesbürger an, dass Deutschland eine "offene Gesellschaft" sei, in der die Karriere nicht mehr vom Elternhaus abhänge, sondern von den eigenen Fähigkeiten und dem erreichten Bildungsabschluss.
Doch tatsächlich findet echter Aufstieg eher selten statt. Es bleibt ein Märchen, dass aus einem Tellerwäscher ein Millionär wird: Weniger als ein Prozent der Kinder aus ungelernten Arbeiterhaushalten schaffen es, selbst zum leitenden Angestellten aufzusteigen. Dagegen werden zwei Drittel der Kinder aus einer leitenden Angestelltenfamilie selbst leitende oder hochqualifizierte Angestellte.
Blockierte Gesellschaft
Leistung allein reicht nicht, um Karriere zu machen - noch wichtiger ist die soziale Herkunft. Deutschland ist eine blockierte Gesellschaft, wie eine neue Studie der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung nachweist. Die Untersuchung ist unter dem Titel "Kaum Bewegung, viel Ungleichheit" erschienen und kann auf der Seite der Böll-Stiftung kostenlos heruntergeladen werden.
Neu ist vor allem die Methode der Studie, die der Soziologe Reinhard Pollak vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung erstellt hat. Zwar gab es auch bisher schon diverse Erhebungen, die Daten zur sozialen Mobilität enthielten. Allerdings waren sie meist nicht miteinander vergleichbar. Diese Statistiklücke hat Pollak nun geschlossen, indem er die Daten aufwendig rekodiert hat.
Schweden ist besser
Nun lässt sich erstmals breit untersuchen, welchen Status die Kinder im Vergleich zu ihren Eltern erreicht haben - und zwar für die Jahrgangskohorten von 1920 bis 1978.
Im europäischen Vergleich zeigt sich dabei, dass der Aufstieg überall einfacher ist als in Deutschland: In Schweden etwa ist der Einfluss des Elternhauses um rund 30 Prozent schwächer ausgeprägt. Selbst im klassenbewussten Großbritannien ist die Herkunft um 15 Prozent weniger wichtig als in Deutschland.
Dieser deutliche Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Berufschancen gilt auch für die Migranten in Deutschland. Haben die Eltern Abitur, dann liegt die Wahrscheinlichkeit für Einwandererkinder bei knapp 40 Prozent, dass sie leitende oder hoch qualifizierte Angestellte werden. Besitzen ihre Eltern jedoch keinen Schulabschluss, dann enden sie zu fast 80 Prozent als ungelernte Arbeiter.
Die deutsche Gesellschaft ist also extrem zementiert - trotzdem ist zu verstehen, dass die meisten Bundesbürger noch immer an eine Karriere glauben. Denn viele haben tatsächlich eine bessere berufliche Position als ihre Eltern erreicht: Von den westdeutschen Männern haben 35 bis 40 Prozent einen Aufstieg erlebt, bei den westdeutschen Frauen sind es inzwischen knapp 35 Prozent. Abgestiegen sind deutlich weniger: Bei den westdeutschen Männern und Frauen konnte nur etwa ein Fünftel den Status der Eltern nicht halten.
Alle drängen in die Mitte
Allerdings ist nicht jeder Aufstieg ein echter Aufstieg, sondern oft durch den Strukturwandel erzwungen. So ist nur noch jeder sechste Sohn eines Landwirts selbst Bauer - alle anderen mussten sich neue Tätigkeiten suchen. Zudem verlangen nun viele Berufe Abitur oder gar ein Studium, für die früher eine Lehre reichte. Bestes Beispiel sind die Bankkaufleute. Die Arbeit findet noch immer am Schalter statt, doch die Ausbildung ist sehr viel anspruchsvoller geworden.
Diese Professionalisierung ist jedoch nicht mit einem ökonomischen Aufstieg gleichzusetzen. Die Reallöhne sinken seit Jahren, die Mittelschicht schrumpft. Dies spiegelt sich jedoch nicht in der Selbstwahrnehmung der Deutschen, wie der Böll-Studie zu entnehmen ist: Die allermeisten verorten sich unbeirrt in der Mitte.
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