Streitschrift gegen Noten: Wie die Schule Verlierer produziert
Die Grundschullehrerin Sabine Czerny entlarvt die Notenlüge: Für die Auslese werden Kinder zur Vier gemacht. Darüber hat sie jetzt ein Buch geschrieben.
![](https://taz.de/picture/295430/14/zensuren_zettberlin.20101004-19.jpg)
Sie hat es wieder getan. Die bayerische Grundschullehrerin Sabine Czerny machte vor zwei Jahren öffentlich, wie das Schulsystem mittelmäßige Notenschnitte in einer Klasse erzwingt. Und zwar nur, damit Realschule und Gymnasium, aber auch die Hauptschule genügend zehnjährige Kinder zugewiesen bekommen. In Czernys eigener vierter Klasse erreichten die Schüler damals bei Mathe-Vergleichsarbeiten einen Schnitt von 1,8. Das ist zu gut, befanden Schulaufsicht und Rektorat. Czerny wurde strafversetzt wegen Störung des Schulfriedens.
Nun ist Czerny zurück in der Öffentlichkeit. Fast 400 Seiten dick ist ihre Streitschrift gegen Zensuren und Auslese im Schulsystem. Am Montag erscheint das Buch "Was wir unseren Kindern in der Schule antun". Dabei geht es Czerny weniger um Schuldzuweisungen, sondern um einen Blickwechsel. Sie ist überzeugt: Alle Kinder können lernen, alle Kinder könnten eine Eins sein. Doch Drill und Zensuren halten sie davon ab. Die Noten spiegeln stattdessen eine Verteilung in begabte und weniger begabte Kinder vor. Czerny meint: Noten lügen.
Ein Buch mit ähnlicher Stoßrichtung veröffentlichte kürzlich auch die Pädagogin Ursula Leppert. Es mag Zufall sein, dass zwei Lehrerinnen zur selben Zeit ein Buch gegen Noten publizieren. Fakt ist: Beide kommen aus dem Bundesland, dass Druck und Auslese perfektioniert hat und als eines der letzten am dreigliedrigen "begabungsgerechten" Schulsystem festhält.
Doch während Leppert bereits pensioniert ist, unterrichtet Czerny an einer Grundschule. Und das macht ihr Buch so mutig und brisant. Hier schreibt eine Lehrerin, die in einem Zwiespalt steckt: Sie liebt ihren Beruf und will das Beste aus den Kindern rausholen. Andererseits erlebt sie, dass zu viel Erfolg nicht sein darf. Die Verteilung in der Klasse muss stimmen: wenige Einser, ein paar Zweier, ein Mittelfeld aus Dreiern, und die Vierer und Fünfer dürfen nicht fehlen.
Schule und Zensuren gehören eben untrennbar zusammen. Czerny entlarvt diese Liaison als fein aufeinander abgestimmte Auslesemaschinerie, die Kinder vor allem nach Herkunft trennt. Die Proben, wie die Tests in Bayern heißen, muss sie so konzipieren, dass die meisten Kinder nicht die volle Punktzahl erreichen. Alles, was im Unterricht eingeübt wurde, ist nur eine Vier wert, was eigentlich heißt: Ein Kind hat es kapiert. Die Kultusminister haben sich aber darauf geeinigt, dass Kinder mehr können müssen als das Eingeübte, um eine bessere Note zu bekommen.
Beim Kampf um Spitzenplätze sind vor allem jene im Vorteil, die das Quäntchen "Mehr" von Haus aus mitbringen - bei denen Bücher im Wohnzimmer stehen und die Eltern auf der Matte, sobald der Notendurchschnitt sinkt. Kinder aus sogenannten bildungsfernen Familien werden dagegen schnell zur Vier - und damit zu Verlierern. Die Note bestimmt, wer am Ende der Grundschule aufs Gymnasium kommt und von dort aus den Weg zu höherer Bildung und höherem Einkommen einschlägt.
In Bayern, wo Czerny unterrichtet, braucht man einen Notenschnitt von 2,33 in den Hauptfächern. Die Notengebung wird zum Selbstzweck. Das Unbehagen, das einen in Erinnerung der eigenen Schulzeit beschleicht - oder kennt jemand noch die Funktion all der Kohlenwasserstoffe, die man für eine gute Zensur paukte? -, wird gesteigert, schaut man auf die Bilanz unseres Bildungssystem.
Jeder fünfte Neuntklässler liest nur auf Grundschulniveau. 65.000 Schüler verlassen die Schule jährlich ohne Abschluss, fast 400.000 bekommen keine Lehrstelle, sondern absolvieren vorgeschobene Warteschleifen.
Doch die politischen Gegenrezepte gebieten oft mehr vom Gleichen: mehr Prüfungen, höherer Druck durch kürzere Abiturzeiten, strengere Auslese beim Übergang auf weiterführende Schularten. Und wo die Politik sich zögernd vorwagt, konservieren Eltern das Bestehende: In Hamburg haben sie per Volksentscheid erzwungen, dass die ungerechte Auslese nach Klasse vier bleibt. Czernys Plädoyer umzudenken, klingt angesichts dieses Beharrungsvermögens zu optimistisch.
In Berlin dürfen die Eltern der Grundschüler sogar selbst entscheiden, ob ihre Kinder ab Klasse drei Noten bekommen sollen. Die Elternabende finden zurzeit statt. Bei einem stimmten alle Anwesenden bei zwei Gegenstimmen für Zensuren. Begründung: "Ich sag mal, uns hat es ja auch nicht geschadet." Oh doch, wir ahnen bloß nicht, wie sehr.
Sabine Czerny: "Was wir unseren Kindern in der Schule antun", Südwest Verlag, 17,99 Euro
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