Streit um Bildungsabschlüsse: Geselle vs. Abiturient? Wer kann mehr?
Alle Abschlüsse sollen künftig europaweit vergleichbar gemacht werden. Politik, Wirtschaft und Gewerkschaften streiten, ob das Abitur mehr Wert ist als eine Lehre.
BERLIN taz | Der Schrank im Pausenraum der Tischlerei Blisse & Sohn schlängelt sich über drei Wände. So etwas sollte eine Gesellin nach ihrer Lehre konstruieren können, meint Meister Jan Diederich. Zum Fächerkanon eines bayerischen Abiturienten gehören Mathe, Naturwissenschaften, Fremdsprachen und Deutsch. Er hat auch gelernt, sein Wissen zu präsentieren und kann sich in andere Gebiete einarbeiten, erläutert Heinz-Peter Meidinger, Gymnasialdirektor.
Wer kann mehr? Darum streiten derzeit heftig Wirtschaft, Gewerkschaften und Kultusminister. Die Minister werden nun erst einmal auf ihrer Sitzung am 8. Dezember beraten, wie sie mit den anderen Parteien wieder ins Gespräch kommen, denn derzeit ist die Kultusministerkonferenz (KMK) mit allen verkracht. Sowohl Gewerkschaften als auch der Zentralverband des Handwerks (ZDH) haben die Einladung der KMK für diesen Donnerstag höflich abgesagt.
Sie müssen sich jedoch auf ein Raster einigen, das alle Abschlüsse auf einer Skala von 1 bis 8 einordnet. Dieser Deutsche Qualifikationsrahmen (DQR) soll nächstes Jahr Teil des Europäischen Qualifikationsrahmen werden. Auf jedem Zeugnis ist dann das erreichte Niveau vermerkt. Arbeitgeber sollen so leichter feststellen, was ein Bewerber kann.
Ein Abiturient, der ein Team leitet?
Krach gibt es um den Stellenwert von Abitur und Lehre. Die Kultusminister hatten im Oktober beschlossen, das Abi auf Stufe 5 des DQR zu heben. Damit liegt es aber über den beruflichen Ausbildungen, die sich auf die Stufen 3 und 4 verteilen.
Niveau 4 schließt nach DQR ein vertieftes Allgemein- oder Fachwissen ein und die Fähigkeit, im Team zu arbeiten. Absolventen auf Niveau 5 sind dagegen in der Lage, Arbeitsprozesse zu planen und andere anzuleiten. Ein Abiturient, der ein Team leitet? Nach Ansicht Otto Kentzlers, ZDH-Präsident, gehören berufliche Bildungsabschlüsse und Abitur beide auf Stufe 4. Kentzlers Verband koordiniert den Qualifikationsrahmen federführend für die Wirtschaft.
Einig sind sich die Arbeitgeber auch mit den Gewerkschaften. Zusammen mit DGB-Chef Michael Sommer hat Kentzler an alle Kultusminister appelliert, "der dualen Berufsausbildung den ihr gebührenden Platz im DQR einzuräumen". Sprich das Abitur abzustufen. Sonst befürchte man einen massiven Attraktivitätsverlust der Ausbildung.
Minister lassen sich nicht beirren
Davon haben sich die Minister bisher aber nicht beirren lassen. "Das Abitur hat im europäischen Vergleich eine Sonderstellung: Es ermöglicht ein Hochschulstudium ohne gesonderte Zugangsvorausetzung", sagt Udo Michallik, KMK-Generalsekretär.
Damit folgt die KMK den Empfehlungen der Gymnasiallobby. Schuldirektor Meidinger, auch Vorsitzender des Deutschen Philologenverbands, geht es vor allem um die herausgehobene Stellung des Abiturs gegenüber dem französischem Baccalauréat oder dem englischen A-Level: "Das Abitur ist anders konstruiert, es umfasst mehr Fächer und Fremdsprachen." Die duale Ausbildung wolle man dabei nicht herabsetzen. Die Arbeitgeber sollten einfach Lehrberufe ebenfalls auf Stufe 5 heben.
Damit liebäugeln auch die Kultusminister, die einen Kulturkampf zwischen Abitur und Lehre vermeiden wollen. Der Handwerksverband warnt aber, mit diesem Sonderweg die europäischen Nachbarn zu brüskieren, die ihre Schul- und Berufsabschlüsse bis Stufe 4 verorten. Der Verband hat angeregt, dass das Bildungsministerium (BMBF) alle Partner im Januar zu einem Treffen einladen soll. Dem würde man sich nicht verschließen, heißt es dazu aus dem BMBF. Bis spätestens September 2012 müssen sich die Partner geeinigt haben.
Für Ausbilder Diederich ist es unerheblich, welchen Abschluss ein Bewerber hat. "Entscheidend ist, dass jemand motiviert ist." Mit Abiturienten habe man da eher schlechte Erfahrungen gemacht: "Die sind nicht teamfähig. Viele denken, sie sind was Besseres."
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut
Der Check
Verschärft Migration den Mangel an Fachkräften?
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
FDP-Krise nach „Dday“-Papier
Ex-Justizminister Buschmann wird neuer FDP-Generalsekretär