■ Streit um Bahnhof Grunewald: Besitzstandswahrung
Vor über fünfzig Jahren, vom 18. Oktober 1941 an, transportierten Züge der Reichsbahn Tausende von Berliner Juden in die Vernichtungslager des Ostens. Der erste Zug rollte vom Bahnhof Grunewald nach Lodz, später kamen noch die Bahnhöfe Putlitzbrücke und der Anhalter Bahnhof hinzu. Rampen und Gleise existieren nur noch im Grunewald; daß es die historischen Anlagen sind, bestreiten die Historiker. Jetzt planen aber Bundes- und Reichsbahn irgendwo an diesem Ort eine Waschanlage für ihre Schnellzüge. Dies dürfe nicht sein, argumentieren der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde, die Arbeitssenatorin, der Kultursenator sowie das Bündnis 90/Die Grünen. Denn die Gedächtnisstätte dürfe nicht aus technisch-funktionalen Gründen geopfert werden.
So weit so richtig. Eine Waschanlage der Reichsbahn dicht neben dem Denkmal für die 50.000 von der Reichsbahn aus Berlin deportierten Juden wäre schlicht ein Skandal. Trotzdem hat die Aufregung einen schalen Beigeschmack. Denn es steht noch überhaupt nicht fest, wohin diese Anlage soll, das Güterbahngelände umfaßt Tausende von Quadratmetern. Große Teile des Areals sind mit Müll, Geröll und Schrott übersät.
Kein Mensch hat sich in der Vergangenheit je darüber beschwert, daß damit das Andenken an die Toten geschändet werde. Wenn jetzt die Anwohner des Villenviertels am Grunewald sich protestierend bei der Jüdischen Gemeinde melden, müssen sie sich die Frage gefallen lassen, ob sie die ermordeten Juden nicht für ihre eigenen Interessen funktionalisieren. Ist ihr Anliegen die Bewahrung der Topographie des Terrors oder nur der egoistische Wunsch, weiter in der privilegierten Idylle zu leben. In der Vergangenheit war der Trauerort auf den Gleisen für das Publikum gesperrt. Wenn das Areal eine wirkliche Gedächtnisstätte sein soll, dann muß es öffentlich zugänglich sein – dafür haben sich die Nachbarn noch nie eingesetzt. Anita Kugler
Siehe Bericht auf Seite 5
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