Streit über Corona-Politik: Ist Merkel zu hart oder zu lasch?

Die Kritik an der Pandemie-Politik der Bundeskanzlerin geht in die Irre. Das Problem ist nicht Verlust von Freiheitsrechten, sondern fehlende repressive Härte.

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Von UDO KNAPP

Über den Satz von Angela Merkel, dass „im Großen und Ganzen nichts schief gelaufen ist“, wurde ausgiebig gehöhnt. Aber nach einem Jahr Corona-Management kann der Bundeskanzlerin im Großen und Ganzen nur zugestimmt werden.

Die Vorstellung ist falsch, mit Corona als dauerpräsenter Krankheit leben zu können, vergleichbar der Grippe. Das Coronavirus verstärkt seine Infektionsfähigkeit und verbreitert seine zerstörerischen Kraft im menschlichen Körper. Belastbare Aussagen über eine dauerhaft immunisierende und sterilisierende Wirkung der Impfstoffe werden noch lange nicht vorliegen. Dritte, vierte und weitere Infektionswellen sowie konstant zunehmende Covid-Todesfälle in allen Altersgruppen sind zu erwarten. Sie können nur mit einem harten Lockdown und dem Impfen von zwei Dritteln der Bevölkerung abgemildert werden. Den Weg hin zu einem dauerhaften Austrocknen des Coronavirus werden wir bis Ende 2022 gehen müssen.

Die Bundesregierung hat mit einigem Erfolg auf dieses Austrocknen des Coronavirus hingearbeitet. Lockdown, Maskenpflicht, Kindergarten-, Schulschließungen und andere die Infektionsketten unterbrechende und das Infektionsgeschehen nachvollziehbar machende Maßnahmen zeigen zum zweiten Mal entlastende Wirkung.

Die Maßnahmen der Bundesregierung zeigen Wirkung

Investitionen in die intensivmedizinische Versorgung von Covid-Erkrankten wurden flächendeckend umgesetzt. Öffentliche und private Krankenhäuser, Ärzte und alle assoziierten Institutionen haben weitgehend selbstorgansiert das Pandemiegeschehen unter Kontrolle gehalten.

Die Bundesregierung hat mit Investitionen in die Pharmaindustrie, marktwirtschaftlich orientiert, ökonomische Anreize für die Entwicklung und die Produktion von Impfstoffen gesetzt. Sie hat diese Anreize verstärkt durch millionenschwere Abnahmegarantien für die Impfstoffe – nach deren erfolgreichen und in keiner Weise eingeschränkten Zulassungsverfahren.

Sie hat damit ein „robustes Profitmotiv“ für die Pharmaindustrie geschaffen, wie der Ökonomieprofessor Arash Molavi Vassei das in der FAZ nannte. In nur wenigen Monaten hat dieses so gar nicht in die neoliberale Denkwelt passende Kooperieren von Staat und Markt Erfolge gezeigt. Drei Impfstoffe sind vorhanden, das Impfen ist im Gange.

Der Sozialstaat beweist seine absichernde Kraft

Die Bundesregierung hat ihre Anti-Corona-Strategie europaweit aufgelegt und in der EU durchgesetzt. Der bewusste Verzicht auf eine Bevorzugung der Bundesrepublik bei der Verteilung der neuen Impfstoffe in der EU ist trotz des dadurch verlangsamten Impfprozesses als ermutigendes europasolidarisches Wetterleuchten zu begrüßen.

Die wirtschaftlichen Folgen des Herunterfahrens des öffentlichen Lebens in der Bundesrepublik werden von der Bundesregierung mit einer eher zu weit gehenden Neuverschuldung der öffentlichen Haushalte vorübergehend gedeckelt, was aber dennoch eine radikale Marktbereinigung und Modernisierung in vielen Bereichen der Wirtschaft auf den Weg bringen wird. Der Sozialstaat, vom Kindergeld über die Grundrente bis hin zu Hartz IV, beweist für Millionen seine individuell gegen einen Totalabsturz absichernde Kraft.

Das demokratisch legitimierte rechtstaatliche Machtgefüge der Republik funktioniert auf der Ebene des Regierungshandelns. Kanzlerin Merkel nutzt ihr für eine Bedrohungslage grundgesetzfest zustehende exekutive Ermessenspielräume. Trotz aller medialer Aufregung: Sie hat sowohl ihr Kabinett als auch die Landesfürsten grosso modo im Griff.

Auf Freiwilligkeit zu setzen ist ein Fehler

Das negative Getöse der Medienwelt ist in demokratischen Gesellschaften normal und bis zu einem gewissen Grad unterhaltsam; die Umfragewerte signalisieren dessen ungeachtet zumindest derzeit breite Zustimmung für Merkels Politik.

Die Bundesregierung setzt diese Zustimmung allerdings aufs Spiel. Anstatt auch alle repressiven Spielräume auszuschöpfen, die ihr das staatliche Gewaltmonopol nach innen im Krisenfall einräumt, um die gesamte Gesellschaft einigermaßen unbeschadet durch die Pandemie zu führen, setzt sie in hohem Maße auf Freiwilligkeit. Anders als in Portugal, Spanien oder Frankreich werden die Lockdown-Vorschriften kaum ordnungsrechtlich oder strafrechtlich verfolgt. Es ist nachvollziehbar, dass Bürger, die primär ihre Eigeninteressen im Blick haben, ohne klare rechtswirksame Ansagen machen was sie wollen. Jörg Kaltenbach (CDU), Bürgermeister von Mühlheim an der Donau, verlangt zu Recht harte Strafen für die 14 Mitglieder einer Wandergruppe, die sich nach einem Ausflug fast alle gegenseitig angesteckt hatten und dadurch die Inzidenz in der Stadt radikal in die Höhe trieben.

Merkel weicht auf dieser Handlungsebene vor den öffentlichen Unterstellungen zurück, sie „bagatellisiere mit ihrer Coronapolitik kühl die Freiheitsbedürfnisse der Bürger“ (Ulf Poschardt, Welt). Auch von Teilen der bürgerlichen Öffentlichkeit wird ihr unterstellt, dass die „Exekutive unter ihrer Führung ein Übergewicht (…) an sich gerissen habe, das demokratietheoretisch bedenklich sei“ (Otfried Höffe, Philosophieprofessor). Damit werde die Würde des Menschen verletzt, die im Artikel 1 des Grundgesetzes verbrieft ist.

Es geht um das Gemeinwohl der ganzen Gesellschaft

Geht’s noch?

Sind die Grundrechte der Bundesbürger eingeschränkt, weil sie für ein, zwei Jahre nicht nach Mallorca fahren dürfen, weil ihre Kinder und deren Lehrer, zum Vorteil aller, das computerstützte Homeschooling lernen müssen, weil die Eltern sich in der nächsten Zeit selber um ihre Kinder kümmern müssen, weil so viele Klamottenläden, Konsumtempel und Kneipen pleite gehen und weil viele in den nächsten beiden Jahren mit deutlich weniger Einkommen als bisher auskommen müssen? Das kann Menschen sehr hart treffen, leider, aber es ist keine Einschränkung ihrer Grundrechte.

Der Corona-Strategie der Bundesregierung fehlt nichts außer der notwendigen repressiven Härte, damit die Mehrheit der Bürger auch in den nächsten zwei Jahren selbstgesteuert ihr Leben am Gemeinwohl der ganzen Gesellschaft ausrichten kann.

UDO KNAPP ist Politologe.

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