Streit über Ausbildungsbewertungen: EU-Supermatrix der Bildungsstufen
Wer kann was? Wer steht über wem? Die EU will die Berufsbildung seiner 27 Mitgliedstaaten vergleichbar machen. Ein kaum lösbares Vorhaben.
PARIS/BERLIN taz 17 Stunden steht Marcel nun schon in der Küche, reibt Kartoffeln, formt Röstis und schiebt Kalbshaxen in den Ofen. Es ist sein erster Tag in Paris, in der Küche der École Grégoire-Ferrandi, einer der renommiertesten Berufsschulen für Köche in Frankreich. Fast täglich bekochen die Schüler hier Gäste aus dem In- und Ausland. Nicht alles, was seine französischen Mitschüler sagen, versteht Marcel. In seiner Brusttasche hat er deshalb ein Wörterbuch mit dem wichtigsten Küchenvokabular stecken: Bratpfanne, Abtropfgitter, Schneeschlagkessel. Um 23 Uhr sagt Marcel: "Ich bin echt fertig."
Vier Wochen wird der 22-jährige Berliner hier bleiben, um mehr über die französische Küche zu erfahren. "Die sollte man als Koch kennen", sagt Marcel. Doch was für ihn eine Selbstverständlichkeit ist, ist für die meisten deutschen Auszubildenden die Ausnahme. Nur ein bis zwei Prozent von ihnen verbringen einen Teil ihrer Ausbildung im Ausland. Oft lassen die deutschen Firmenchefs sie ungern gehen. Und wenn sie gar für die komplette Ausbildung ins Ausland gehen, stehen die Azubis vor dem Problem: Wird das auch anerkannt? Zu unterschiedlich sind die Ausbildungssysteme, zu unübersichtlich die vielen Abschlüsse.
Das soll sich nun ändern. Nach den Unis soll in der EU die Berufsausbildung vereinheitlicht werden. EQR und ECVET heißen die Wortungetüme, die das möglich machen sollen. EQR steht für "Europäischer Qualifikationsrahmen" und stellt den Versuch dar, alle Bildungsniveaus innerhalb Europas vergleichbar zu machen. Vom angelernten Arbeiter über den Gesellen bis zum Doktor an der Uni. Acht Niveaus sollen ausreichen, um das Können aller abstufen zu können.
ECVET heißen die Kreditpunkte, die es für einzelne Ausbildungsleistungen geben soll - vergleichbar mit den ECTS-Punkten, die es bereits für einzelne Vorlesungen und Seminare an den Unis gibt. Vergangene Woche hat die EU-Komission Details vorgelegt. In den mehr als 30.000 Berufsbildungseinrichtungen in Europa soll es demnach für einzelne Teilqualifikationen einheitliche Punkte geben.
Es ist ein Megavorhaben, das sich die EU-Bürokraten da vorgenommen haben. 27 Länder, acht Niveaus, ein absehbares Chaos. Denn wenn man allein die Berufsbildung in Deutschland und Frankreich nebeneinanderstellt, kommen einem Zweifel, ob sich die Ausbildungssysteme so leicht übertragen lassen.
Julien, 19, und Tobias, 21, erlernen beide einen Handwerksberuf. Tobias wird, wie in Deutschland nach wie vor üblich, in einem Betrieb zum Mechatroniker ausgebildet. Zwei Wochen bei der Berliner Stadtreinigung wechseln sich mit einer Woche Berufsschule ab.
Dieses duale System ist in Frankreich die Ausnahme, die schulische Ausbildung der Normalfall. Julien wird im Lycée des Métiers du Bois in Paris zum Holzfachmann ausgebildet. Die Schüler lernen hier in einer riesigen Ausbildungswerkstatt das Sägen, Schleifen, Leimen, Hobeln, Konstruieren. "Wer hier pfeift, wird bei der Installation weinen", steht an der Tür einer Lehrwerkstatt.
Französische Berufsschulen wie diese bieten ihren Schülern eine kaum überschaubare Menge von Diplomen an. CAP und BEP heißen etwa die beiden Facharbeiterbriefe, deren Unterschied selbst für Franzosen schwer zu erklären ist. "Auch die Schüler kennen ihn oft nicht", sagt die Schulleiterin. "Manche kreuzen einfach irgendetwas an, wenn sie hierherkommen."
Julien will die Schule nach vier Jahren mit einem "Bac Pro" verlassen, dem französischen Berufsabitur. Doch auch das ist kaum mit dem deutschen Fachabi zu vergleichen. Zum Studieren jedenfalls taugt es kaum. Anders bei Tobias: Er hatte schon vorher ein Fachabi in Metalltechnik in der Tasche und überlegt, nach der Lehre noch Kfz-Technik zu studieren.
Julien aus Paris und Tobias aus Berlin: Lassen sie und ihr Können sich wirklich auf einer Skala von 1 bis 8 abbilden?
Die Vorgabe der Politik ist klar: Bis 2010 sollen alle EU-Staaten festlegen, wie ihr System in den europäischen Rahmen übertragen werden kann. Hinter den Kulissen wird derweil heftig gefeilscht. "Jedes Land wird sich dafür einsetzen, dass die eigenen Abschlüsse so hoch wie möglich eingestuft werden", sagt Georg Hanf vom Bundesinstitut für Berufsbildung.
Doch auch innerhalb der Länder tobt eine Auseinandersetzung. Einer der Streitpunkte in Deutschland: Die Facharbeiter werden wohl nicht einem einheitlichen Niveau zuzuordnen sein. Während eine Friseurin auf Niveau 3 landen könnte, könnte eine Bankkauffrau Niveau 4 oder sogar 5 bekommen - und das bei gleicher Ausbildungsdauer. Denn das ist der Paradigmenwechsel beim europäischen Qualifikationsrahmen: Es geht nicht darum, Ausbildungszeiten aufzurechnen, sondern tatsächlich erlernte Kompetenzen, Kenntnisse und Fähigkeiten zu erfassen. Sprich: wie viel jemand kann.
Für Unmut sorgen auch die ECVET-Kreditpunkte, die es für kleine Ausbildungshäppchen geben soll, sogenannte Module. "Kategorien, die aus der Perspektive der deutschen Berufsbildung problematisch sind", heißt es in der noch unveröffentlichten Expertise "Berufsbildungsperpektiven 2008" des wissenschaftlichen Beraterkreises von Ver.di und IG Metall. Denn mit der Bewertung von kleineren Lerneinheiten drohe "die Erosion ganzheitlicher Berufsbildungsgänge". Soll heißen: das Ende der rund 340 Ausbildungsberufe, auf die die Deutschen so stolz ist.
Das neue Punktemodell entspricht eher dem englischen Vorbild. Dort wird, wie Kritiker unken, bereits ein Zertifikat für das korrekte Eindrehen einer Schraube vergeben. Und ein zweites fürs Ausdrehen.
Doch auch mit den Unis gibt es Zoff. Denn das deutsche Handwerk findet, dass der Meister mindestens dem Bachelor-Abschluss an Unis gleichzusetzen ist. Die Hochschulen finden: Die obersten drei Niveaus sollten für Doktor, Master und Bachelor reserviert sein - erst darunter können sich dann die Nichtakademiker tummeln.
In allen EU-Ländern streiten sich die Interessengruppen über die Einstufung ihrer Ausbildungen. Was ist wie viel wert? Wer kann was? Wer steht über wem? All das soll die europäische Supermatrix beantworten.
Dem angehenden Koch Marcel kann diese Diskussion allerdings egal sein. Nach seinen vier Wochen an der École Grégoire-Ferrandi in Paris kehrt er zurück nach Berlin, wo er an einem Fünfsternehotel seine Lehre beendet. Ihn dürfte es nur wenig interessieren, ob er nach seinem Abschluss auf Niveau 3, 4 oder 5 anzusiedeln ist. Denn in der Küche ist ein anderes Niveau entscheidend: das des Essens, das am Ende auf dem Tisch steht.
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