Streit der Woche: Hat die Jugend noch eine Jugend?
Jugendliche sind karriere- und verantwortungsbewusst, aber auch unpolitisch. Gehört die wilde Jugend der Vergangenheit an, oder sind Jugendliche heute nur faul und bequem?
In den Klischees und ihren Bilderbüchern ist die Jugend eine wilde Zeit, geprägt von Freiheit und Selbstbestimmung. Ab und an vielleicht auch ein wenig Rebellion und Unvernunft. Womöglich geht es im Leben junger Menschen aber mittlerweile mehr um Fremd-, denn um Selbstbestimmung: Wenn der Mineralölkonzern Shell am kommenden Dienstag seine „Jugendstudie“ veröffentlicht, wird es darin nicht vorrangig um Träume und Pläne Jugendlicher gehen, sondern um ihren „Umgang mit Druck und Unsicherheit nach der Wirtschaftskrise“. Äußeren Zwängen also.
Lesen Sie die Antworten von Experten, Prominenten und taz.de-Lesern zum Streit der Woche in der sonntaz vom 11./12. September – erhältlich zusammen mit der taz am Kiosk oder direkt in Ihrem Briefkasten. Wollen Sie mit dabei sein? Dann schicken Sie uns Ihren Kommentar an streit@taz.de. Mehr dazu im Kasten rechts oben.
Tatsächlich lasten viele Anforderungen auf der jungen Generation: Arbeitsmarkt und Politik verlangen zielstrebige, flexible und immer jüngere Leistungsträger. Eltern wünschen sich würdige Repräsentanten der Familie. Ein Erwartungsdruck wird schon im Kindergarten an sogenannte „Fast Track Babys“ weitergegeben, Schüler des achtjähirgen Gymnasiums und Bachelor-Studenten werden unter straffer Anleitung direkt zur steilen Karriere geführt. Die „Generation Praktikum“ schuftet sich entgeltlos zum perfekten Lebenslauf.
Angesichts dieser Überforderung bleiben eigene Forderungen scheinbar oft auf der Strecke. Laut der Shell-Studie des Vorjahres werden Jugendliche zunehmend unpolitisch. Oder in Anbetracht des Lebenslaufzwanges sogar verantwortungsbewusster als ihre Eltern: Jugendliche haben nach einer Erhebung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung immer später Sex. Und verhüten gewissenhaft.
Andererseits: Jugendliche und Eltern jammern auf hohem Niveau. Es ist ein historischer Glücksfall, dass Jugendliche kaum noch zum finanziellen Überleben der Familie beitragen müssen, und sich stattdessen ungestört und jahrelang der Bildung widmen können. Gleichzeitig bieten sich vielen jungen Menschen materielle Möglichkeiten wie nie zuvor: Reisen und Mobilität sind erschwinglich, Kultur und Freizeitmöglichkeiten allgegenwärtig. Was von Musikschule über Ganztagsschule bis zu Praktikum für viele Kinder und Jugendliche Stress ist, mögen ältere Generationen als unangeahnte Möglichkeiten betrachten.
Schließlich kann man der über-forderten Jugend auch simple Bequemlichkeit vorwerfen: So ziemlich jedem Jugendlichen stehen alle Informationen und Vernetzungsmöglichkeiten offen. Ein Computer und ein Netzwerkkabel genügen, um in kürzester Zeit alle erdenklichen Ideen, Inspirationen und Kontakte zu erhalten. Es stehen alle Türen offen. Da ist es vielleicht doch eine Übertreibung von der verlorenen Jugend zu sprechen.
Was meinen Sie: Hat die Jugend noch eine Jugend?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Leben ohne Smartphone und Computer
Recht auf analoge Teilhabe
Studie Paritätischer Wohlfahrtsverband
Wohnst du noch oder verarmst du schon?
Ex-Mitglied über Strukturen des BSW
„Man hat zu gehorchen“
Fall Mouhamed Dramé
Psychische Krisen lassen sich nicht mit der Waffe lösen