Streit der Woche: Rollen oder Tragen?
Sommerzeit, Urlaubszeit. Doch Entspannung bedeutet das noch lange nicht, denn vor dem Trip stellt sich die alles entscheidende Frage: Rollkoffer oder Tragetasche?
„Rrrrhhh, rrrhhh, rrrrhhhh...!“, so hallt es. Sie sind allein in der Nacht unterwegs, fast allein. Außer Ihnen surrt auch der Rollkoffer die menschenleeren Straße entlang – laut und unüberhörbar für jedermann, hinter den Gardinen der Wohnhäuser blitzen schon bald die ersten verärgerten Gesichter auf.
Sind Trolleys Segen oder Plage? Für viele vom Tourismus geplagte Berliner gilt sicher Letzteres. Mehrere Millionen Touristen strömen jährlich in die 12.000 Ferienwohnungen, die in normalen Wohngebieten liegen. Eine Zumutung, wie viele Anwohner finden. Im Februar entschied der Bundesgerichtshof auf Klage eines Hauptstädters hin, dass Anwohner sogar Anspruch auf Mietminderung haben – etwa wenn am Stück die Trolleys auf dem Weg zum nächtlichen Flieger unterm Fenster entlang brettern. Und dann die ganzen Rollkoffer, die die Innenstadt und U-Bahn-Stationen verstopfen!
Doch Hand aufs Herz: Geht es an die eigene Reise, so packt doch wieder jeder sein eigenes – ehm – Roll-Bündel. Im Zweifel aus Notwehr: Das Satirewiki Zynipedia beschreibt die Nutzung des Rollkoffers aus Gründen des Gruppenzwangs als „Kofferkulli-Dilemma“.
Den ganzen Streit der Woche lesen Sie in der sonntaz vom 4./5. August. An jedem gutsortierten Kiosk, im eKiosk oder im Briefkasten per Wochenendabo.
Im Kern geht es um die Frage: Kooperieren die Menschen miteinander und nehmen aus Rücksichtnahme auf andere eigene Nachteile in Kauf? Oder versucht ein jeder, die eigenen Interessen durchzusetzen, auch wenn dabei möglicherweise allen ein Nachteil entsteht? Was in diesem Fall bedeuten würde, dass jeder einen komfortablen Rollkoffer benutzt, vor und hinter jeder Zugtür und Treppe stehen bleibt, den Auszieh-Griff verstellt und alles blockiert. Schließlich, so Zynipedia, seien alle Gänge heillos verstopft und niemand könne mehr komfortabel reisen.
Auf der anderen Seite spiegelt der Siegeszug des Rollkoffers auch ein besseres Bewusstsein für den eigenen Körper wieder. Reinhard Schneiderhan, Präsident der deutschen Wirbelsäulenliga, sieht den Trolley eindeutig eher als Segen, denn als Fluch an. Die Gepäckstücke der Luxus- und Überfluss-Gesellschaft werden immer schwerer – damit der Urlaub da noch die gewünschte Erholung bringe, sei gutes Reisegepäck unersetzlich. „Besonders wichtig ist es, in aufrechter Position zu bleiben, um den Rücken nicht zu überlasten“, sagt Schneiderhan. Das kann die Tragetasche wohl nicht bieten.
Training für spätere Hilflosigkeit
Die Publizistin Luise F. Pusch, die sich hauptsächlich mit Genderthemen befasst, sieht noch einen anderen Vorteil. Sie schreibt: „Der Rollkoffer, auch Trolley genannt, hat mein Leben sehr erleichtert. Koffer, die getragen werden müssen, sind so altmodisch wie Männer mit Hüten und kommen nur noch in alten Filmen und Büchern vor. Mit dem Trage-Koffer verschwunden ist auch der Kofferträger.“ Und somit die Degradierung der Frau zu einer hilfebedürftigen Reisenden. Damit bedeutet das Rollgepäck ohne Zweifel ein Plus an Autonomie und Selbstständigkeit für Frauen, ältere Menschen und Kinder auf Reisen.
Doch folgt man den Autoren Tobias Moorstedt und Jakob Schrenk, wird sich mancher Rollkoffer-Fan vielleicht nochmal überlegen, aus Coolness-Gründen wieder auf den Trekking-Rucksack umzusatteln. Sie schlagen in ihrem Buch „Das Jetztikon“ eine gedankliche Brücke zwischen den Trend zum Rollkoffer und der immer älter werdenden Gesellschaft: „Bald wird die Mehrheit der Menschen zu schwach sein, einen Wasserkasten vom Supermarkt nach Hause zu tragen – und trainiert deshalb schon mal mit den Rollkoffern für diese Form der Hilflosigkeit.“ Wer will sich da schon angesprochen fühlen?
Was meinen Sie: Wie soll man reisen, tragend oder rollend? Beziehen Sie Stellung! Die taz wählt unter den interessantesten Kommentaren ein oder zwei aus und veröffentlicht sie im Wochenendmagazin sonntaz. Der Kommentar sollte etwa 900 Zeichen umfassen und mit dem Namen und der E-Mail-Adresse der Autorin oder des Autors versehen sein. Oder schicken Sie uns bis Mittwochmittag eine Mail an: streit@taz.de. Den ganzen Streit der Woche lesen Sie in der sonntaz vom 4./5. August. An jedem gutsortierten Kiosk, im eKiosk oder im Briefkasten per Wochenendabo.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag