■ Streiks in Frankreich: Quittung für Chiracs Wählerbetrug
Es hat lange gedauert, bis der Betrug von Jacques Chirac der breiten Öffentlichkeit Frankreichs klar wurde. Als Wahlkämpfer hatte der Konservative den Kampf „gegen die Ausgrenzung“ in den Mittelpunkt gestellt und sich als Sozialpolitiker angedient. Ein knappes halbes Jahr danach rückte er nun mit der Wahrheit heraus. Im Fernsehen kündigte er ein Austeritätsprogramm für die nächsten zwei Jahre an, das die versprochene Sozialpolitik auf die Zeit nach der Sanierung verschiebt. Zur Begründung seiner Kehrtwende sagte Chirac, der als Spitzenpolitiker das Land seit Jahrzehnten wie seine Westentasche kennt, er habe sich in der Einschätzung der wirtschaftlichen Lage geirrt.
Die von Regierungschef Alain Juppe vorgestellten ersten Einzelheiten der neuen Sparpolitik provozierten einen landesweiten Aufschrei der Empörung. Doch eine einheitliche Opposition hat sich bislang nicht gebildet. Die Sozialistische Partei ist uneinig – während ihr Chef Lionel Jospin die Sparmaßnahmen ablehnt, werden sie von anderen sozialistischen Spitzenpolitikern öffentlich begrüßt. Und die drei großen Gewerkschaften die Landes gehen jeweils eigene, getrennte Wege. Die größte Gewerkschaft, die kommunistisch geführte CGT, streikte gestern zusammen mit den Beamten. Die sozialdemokratische FO streikt am Dienstag und die sozialdemokratisch-christliche CFDT ist intern zerstritten, weil ihre Generalsekretärin das Sparprogramm richtig findet und überhaupt nicht streiken will.
Der gestrige Streik war insofern zugleich Warnung und Beruhigung an die Adresse der Regierung: Eine Warnung, weil der öffentliche Dienst zu weiten Teilen die Arbeit niederlegte und damit die erste große Reform der neuen Regierung frontal ablehnte. Eine Beruhigung, weil die Spaltungen der ohnehin durch jahrelangen Mitgliederschwund geschwächten französischen Gewerkschaften keinesfalls überwunden sind. Solange es dabei bleibt, daß die Gewerkschaften getrennt und gegeneinander kämpfen, brauchen sich Chirac und Juppe keine großen Sorgen zu machen. Dorothea Hahn/Paris
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