Streik? Mir doch Latte!: Der Macchiato machts
Wenn die Milch knapp wird, leiden vor allem die Latte-macchiato-Trinker. Über Umwege sind sie wieder zu Milchtrinkern geworden.
Wer morgens zur Arbeit hetzt und es abends vor Erschöpfung oder wegen des attraktiven Freizeitprogramms nicht mehr in Supermärkte schafft, der wird sich von den aktuellen Nachrichten nicht unmittelbar berührt fühlen. Wenn der Boykott der Milchbauern weiterläuft, und sie auch in Zukunft ihr abgepumptes Erzeugnis in die Landschaft kippen, anstatt sie bei den Molkereien abzuliefern, dann könnte die Milch knapp werden. In ländlichen Regionen, so der Bundesverband Deutscher Milchviehhalter, werde die Milch bereits rationiert.
"Punktuell", so ein Sprecher der Lebensmittelkette Edeka, "kann es sein, dass es wegen der Molkereiblockaden zu einem verringertem Angebot in den Supermärkten kommt." Industrie und Bauernverbände wechseln sich mit apokalyptischen Behauptungen und beruhigenden Versicherungen ab.
Die mit der Industrialisierung einhergehende Arbeitsteilung hat den Menschen ja bekanntlich von den Erzeugern seiner Grundnahrungsmittel entkoppelt. Milch kommt aus dem Tetra Pak, und Bauern, das sind ja diejenigen, denen auf Privatsendern Frauen gesucht werden. Nicht unsere Welt. Milch trinken hatte man spätestens in der Mittelstufe aufgegeben, um sich heimlich zu den Oberstufenschülern in die Raucherecke zu schleichen. Hier wurden die kariösen Zähne mit Süßgetränken aus der Dose malträtiert, Hofdienst und Milchgeld sollten für immer und ewig der Vergangenheit angehören.
Daran konnten auch die Pro-Milch-Kampagnen der CMA nichts ändern. "Die Milch machts" wurde der Bevölkerung eingeflüstert, nur fragte die sich verwundert: "Ja was denn genau?" Auch prominente Sportler, die sich wie Pete Sampras mit Milchbart fotografieren ließen, änderten an dieser negativen Einstellung nichts. Milch war für Babys, Kleinkinder und Aktenkoffer schleppende Schüler. Für all jene also, zu denen man als pubertierender, aber sich arg erwachsen fühlender Teenager nicht gehören wollte. Fortan wurde auf die Milch verzichtet, und dieses Selbstbild halten wir uns noch stets vor Augen - auch wenn es schon längst nicht mehr der Realität entspricht. So betrifft der Boykott der Milchbauern bald auch jene, die es nicht wahrhaben wollen.
Die Milch nämlich schaffte es über Umwege zurück in die Standards der Ernährung - als aufgeschäumter Hauptbestandteil des allgegenwärtigen Latte macchiato. Trotz aller Bionadebooms ist er das Getränk für die Massen. Wurde der Kaffee früher nur im Kännchen serviert, mit einem kleinen Kännchen für die Kondensmilch, und gehörte zu den seltenen Vergnügen, die man sich könnte, so ist der Latte macchiato inzwischen als Grundnahrungsmittel etabliert. Die Milch, die im Dunkeln des eigenen Kühlschranks gammelt, kommt sowieso vom Biobauern, der dafür faire Preise bekommt; steht ja auf der Packung, also muss es auch so sein.
Doch Milch steckt in so vielem mehr, das zu den nicht immer vorbildlichen Ernährungsgewohnheiten gehört: im Pauseneis, in der Schokolade, ja selbst im Dönerfleisch, das traditionell in Milch eingelegt wird. Ein Tag ohne Milch, das ist auch ein Tag ohne Butter, Croissant und Kuchen. Sollte nun die Milch knapp werden, das Bild der Großstadt, wie wir sie heute kennen, würde verändert. Kein großer Kaffeebecher mit Emblem mehr für unterwegs.
Ganz ohne Opposition aber ist der Wiedereintritt in die Milchgesellschaft nicht verlaufen. Gleichzeitig mit der Rückkehr des Kuhprodukts in das Erwachsenenleben bildete sich eine Front: all derer, die entdeckt haben wollen, dass nicht der Kaffee ungesund sei, der war ja längst rehabilitiert, sondern genau die Milch darin. Die sei nämlich größtenteils unverträglich für den menschlichen Darm. Die "Laktoseintoleranz", ein Wort, das in den Achtzigern höchstens Spezialisten bekannt war, ist nun die neue Modeallergie, unter der die Avantgarde der Kaffeetrinker leidet. Und so bietet fast jedes Café den Latte macchiato - gegen Aufpreis - mit Sojamilch an. Eine wirkliche Alternative ist sie geschmacklich jedoch nicht und fällt wegens des jammerigen Images sowieso weg.
Wer sich in diesen Tagen wirklich unabhängig von der Milchlieferung machen möchte, dem bietet ab dem Wochenende ein Spektakel die perfekte Gelegenheit: Dann beginnt die Fußball-Europameisterschaft der Herren mit Beteiligung der deutschen Nationalmannschaft. Die perfekte Ausrede, ganztägig auf Bier umzusatteln. Ob das aber mit dem gepflegten Selbstbild vereinbar ist, sei dahingestellt.
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