: Strategischer Sandkasten der Militärs nach Osten gerutscht
Ein Gespräch mit dem Fuldaer Friedenspädagogen Dr. Peter Krahulec zu den aktuellen Nato-Strategien / Eine Zweiteilung in konventionelle und atomare Kriegsführung hat es nie gegeben ■ I N T E R V I E W
taz: Im Moment scheint in der Bundesrepublik eine neue konventionelle Aufrüstungswelle anzulaufen. Militärflugplätze in Hessen und in Rheinland-Pfalz werden zügig ausgebaut, neue Kampfhubschrauber und Kampfflugzeuge sollen stationiert werden. Wollen die US-Amerikaner - auf Grund der laufenden Abrüstungsverhandlungen im atomaren Bereich - die BRD jetzt mit konventionellen Waffensystemen hochrüsten?
Prof. Krahulec: Wir haben in der Tat eine konventionelle Aufrüstungswelle zu erwarten, aber sie ist nicht neu. Dieser scheinbare Widerspruch erklärt sich aus einem anderen Widerspruch: Nach dem Vertrag zur Abrüstung der Mittelstreckenraketen (INF-Abkommen), der vor allem durch das „neue Denken“ in der Sowjetunion möglich wurde, wurden Hoffnungen auf weitere Abrüstungsschritte geweckt. Dieses „neue Denken“ Gorbatschows ist auch bei einigen westlichen Politikern anerkennend gewürdigt worden. Doch das neue politische Denken hat sich noch nicht in einem neuen militärischen Denken niedergeschlagen. Die Abrüstung der Mittelstreckenraketen war ein einmaliges „highlight“, das den Militärs abgetrotzt werden mußte. Nachdem ihnen das „Instrument“ Mittelstreckenraketen weggenommen wurde, versuchen die Militärs jetzt, neu entwickelte „hardware“, wie etwa den „Apache„-Kampfhubschrauber, zu etablieren entsprechend der immer noch gültigen „software-Theorie“ von der umfassenden Abschreckung, sprich AirLand-Battle.
Wäre demnach die konventionelle Aufrüstungswelle Folge der atomaren „Abrüstungswelle“?
Grundsätzlich muß festgehalten werden, daß es diese Zweiteilung - hier konventionelle Kriegsführung, da atomares Kriegsszenario - im militärischen Denken der Nato eigentlich nie gegeben hat. Schon seit den siebziger Jahren existiert ein Handbuch für US-Militärs („Reference-Book 100-30, I) mit dem Titel: „Conventional-Nuclear-Operations„; alles mit Binde- und nicht mit Trennstrich. Die nukleare Option gibt es nach wie vor, und sie gilt im Sinne des Bindestrichs. Daß nämlich nukleare Ersteinsätze fest in konventionelle Kampfhandlungen eingebunden sind. Dieses Reference-Book ist ein Lehrbuch für jeden Gefechtsfeldkommandeur, und beim sogenannten Demonstrationsschlag entscheidet einzig und alleine der US -Corpsführer. Falls der Gegner die konventionell aufgebaute Frontlinie durchbrochen haben sollte, sind für diesen Fall in einem Musterpaket sowohl der Zeitrahmen (90 bis 120 Minuten) für den Einsatz von Atomwaffen auf der Gefechtsfeldebene als auch die Menge der Atomwaffen (durchschnittlich 150) inklusive der Abschußsysteme und auch die argets (die Zielkoordinaten) genau festgelegt. Das beginnt bei einer 155-mm-Haubitze, geht über die 8-inch -Haubitzen und endet bei Kurz- und Mittelstreckenraketen (Lance, Nike-Hercules, Patriot). Und dann gibt es noch unten die Sprengkammern für Atomminen (ADM) und oben die actical aircrafts (von den Kampfhelicoptern bis hin zur Starflüglern). Im hessischen Musterpaket, dem Package Zebra sind 141 Zielpunkte preplanned, zum größten Teil im Fulda Gap. Eine atomare Sprengkraft von etwa 20 mal Hiroshima würde so über dem Städtedreieck Bad Hersfeld-Fulda -Alsfeld niedergehen, innerhalb von neunzig Minuten.
Wurde das Fulda-Gap-Konzept nicht Mitte der achtziger Jahre von den Militärs aufgegeben?
Aber nur in dem Sinne, daß das Schlachtfeld nach vorne verlegt wurde. Das Konzept integrated battlefield wurde konsequent beibehalten und fortentwickelt. Hinzu tritt das extended battlefield, konkret die DDR, - „möglichst weit vorne“, wo immer das auch im Weltbild der Militärs liegen möge. Die ganze Chose rutscht jetzt im strategischen Sandkasten auf die Weichsel zu, und die gesamte Logistik folgt. Das „erweiterte“ Konzept wurde zuerst unter dem Versatzstück Master Restationing Plan (MRP) bekannt, dann als Wörners „Offensive Nach-vorne-Verteidigung“, ranghöher auch „Rogers-Plan“ genannt. Und dieses Konzept machte auch den „War-Time-Host-Nation-Support-Plan“ für die Militärs notwendig, den 1982 die Bundesrepublik und Großbritannien unterzeichnet haben. Dieser Plan sieht vor, daß die „gastgebende Nation“ (host nation) den Militärs Liegenschaften, Depots, Waffen und Soldaten zur Verfügung zu stellen hat.
Der Bundesrepublik wurde zugestanden, daß sie im Kriegsfalle (wartime) außerhalb des Nato-Gebietes keine Soldaten zu stellen braucht. Dafür muß sie aber um so mehr Waffen und Liegenschaften, also Gelände, zur Verfügung stellen. Das Hessenland ist zwar jetzt keine unmittelbare Gefechtsfeldzone (combat zone) mehr, dafür aber Raum für die gesamte militärische Logistik. Der US-General Bambinie etwa hat bereits 1984 in der 'Military Review‘ unmißverständlich deutlich gemacht, daß die US-Army auch chemische Kampfstoffe so nahe wie möglich am Gefechtsfeld haben möchte. So wird Hessen auch mit „chemical warfare“ überzogen.
Das wäre dann wohl auch die Erklärung für die Reaktivierung der Militärflugplätze in Wiesbaden, in Erlensee, in Fulda und in Mainz-Finthen?
Genau. Und dazu kommen noch die Wünsche nach neuen Depots, nach neuen Truppenübungsplätzen und nach neuen Schießbahnen für die neuen Panzergenerationen. Der „Brückenkopf Bundesrepublik“ hat Luftraum und Landoberfläche genug, deshalb muß er für die Luft-Land-Schlacht (AirLandbattle) geben, was er hat. So will man demnächst, in der Schnittstelle von War-Time-Host-Nation-Support und Master -Restationing-Plan, ganze Divisionen „nach vorne“ verlegen.
Daß es im Moment vornehmlich um die Stationierung von modernen Kampfhubschraubern geht, hängt wohl auch mit diesem AirLand-Battle-Konzept zusammen. Soll damit die angebliche Panzerüberlegenheit des Ostblocks gebrochen werden?
Das ist eine taktische Frage, bei der man Gefahr läuft, das System, gegen das man angeht, faktisch zu verdoppeln, das von mir so genannte „Gemini-Syndrom“ in der Friedensforschung. Die Waffensysteme werden natürlich ständig modernisiert - bis sie „perfekt“ auch im Symbolischen, also Vergangenheitsform sind und neue angeschafft werden. Der „Apache„-Hubschrauber kann mehr als die „Cobra„-Vorgänger; er ist modernisiert. Er kann auch nachts Panzerverbände auf breiter Linie angreifen. Aus der Sicht der Militärs ist er ideales und wendiges Kampfgerät zur Panzerbekämpfung, das jeden Radarschirm unterfliegen und Raketen abfeuern kann, auch wenn mittlerweile 80 Prozent der bundesdeutschen Bevölkerung davon überzeugt sind, daß dies Richtung Osten nicht notwendig sein wird.
Aber ich sage das an dieser Stelle noch einmal. Das ganze konventionelle Material wird durch das atomare Material ergänzt. Beide Waffensysteme bilden eine operative Einheit.
Und der ganze Wahnsinn wiederholt sich natürlich „auf der anderen Seite“. Die sogenannte Vorwärtsverteidigung ist ja eigentlich eine Erfindung der Sowjets - aus einsichtigen historischen Erfahrungen heraus: Schließlich hatte die Sowjetunion zweimal den Krieg im eigenen Land. Bis in die siebziger Jahre fungierten die „Satellitenstaaten“, vor allem die DDR, als „cordon sanitaire“, als Sicherheitsgürtel. Die Erweiterung der Kampfzonen nach vorne, mit „tiefen Schlägen“, „integrierten Einsätzen“ und „rascher Initiative“ und all dem Gefechtsfeldkrempel erfolgte spiegelbildlich zu Nato-Plänen. Für uns „Endverbraucher“ ergibt sich damit eine gemeinsame Schnittmenge der Nuklearplanungen für Mitteleuropa mit einem gesamtdeutschen Nuklearwinter.
Interview: Klaus-Peter Klingelschmitt
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