: Straßenschlacht in Seoul
■ Hunderttausende bei dem Trauerzug für Opfer der Polizei / Größte Demo in der Geschichte Südkoreas / Amnestie für 2.300 politische Gefangene
Seoul (afp) - Zum ersten Mal seit zehn Tagen zogen am Donnerstag wieder Tränengasschwaden durch die südkoreanische Hauptstadt Seoul. Anlaß war die Beisetzung des 20jährigen Studenten Lee Han Yul, der am Sonntag nach 27tägigem Koma seiner Verletzung durch eine Tränengasgranate der Polizei erlegen war. Bereits an der Trauerfeier am Morgen, die auf dem Gelände der Universität stattfand, an der Lee studiert hatte, hatten 50.000 Personen teilgenommen. Der anschließende Trauerzug ins Stadtzentrum schwoll schließlich auf mehrere hunderttausend Teilnehmer an. Es wurde damit die größte Demonstration in der jüngeren Geschichte des Landes. An der Spitze des kilometerlangen Zuges fuhr ein Kleinbus mit dem Sarg des Toten und Lastwagen, auf die riesige Photos des Studenten montiert waren. Auch die beiden Oppositionsführer Kim Dae Jung und Kim Young Sam nahmen am Trauermarsch teil. Demonstranten schrien: „Nieder mit der Diktatur“, und die Menge klatschte Beifall. Ein riesiger Zug gab dem Sarg dann das Geleit in Lees Heimatstadt Kwangju. Fortsetzung auf Seite 6 Dort wurde Lee auf demselben Friedhof bestattet, auf dem auch etwa 100 Opfer des Volksaufstandes vor sieben Jahren begraben liegen. Unterdessen hatte sich in Seoul eine Straßenschlacht entwickelt. Als der Trauerzug versuchte, die Polizeireihen zu durchbrechen und auf den Präsi dentenpalast zuzumarschieren, waren 2.000 Polizisten in Aktion getreten. Die Polizeitruppe schoß mit Tränengas in die Menge, Panik breitete sich aus. Als einzelne Studenten Brandsätze auf eine Polizeiwache warfen, begannen Sondereinheiten massiv zu prügeln. Regelrechte Tränengassalven wurden auf eine anglikanische Kirche abgefeuert, in die sich Demonstranten geflüchtet hatten. Fast gleichzeitig mit dem Beginn des Trauerzuges hatte die südkoreanische Regierung die erwartete Amnestie verkündet, in deren Genuß 2.335 Personen kommen sollen, darunter auch der Oppositionsführer Kim Dae Jung, dessen Bürgerrechte wiederhergestellt wurden. Kim Dae Jung ließ unterdessen erstmalig seine Kandidatur für die Präsidentschaft durchblicken. Von der Amnestie ausgeschlossen sind Angehörige „radikaler kommunistischer Organisationen“.
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