: Stoff für den Salon
„Mit vorzüglicher Rücksicht auf die gegenwärtigen Zeiten“ begann vor zweihundert Jahren die Geschichte des ersten Brockhaus. Der Mut zur Lücke wurde zum Erfolg. Eine Eintrag zur Wissenspflege von A bis Z
VON RUDOLF WALTHER
Konversation nennt man ein Gespräch, von dem es sich nicht lohnt, es geführt zu haben.
Jacob Lorenz (1883–1946)
Im Grunde ist Napoleon schuld. Seine Kontinentalsperre verdarb Friedrich Arnold Brockhaus den Handel mit englischen Wollstoffen en gros in Amsterdam. Um in der Stadt bleiben zu können und nicht in die Enge seines westfälischen Pastorenelternhauses zurückzumüssen, widmete sich Brockhaus ab 1805 seiner „Lieblingsneigung“, so die Firmengeschichte, eröffnete eine Buchhandlung und begründete eine Instanz des Bildungsbürgertums bis ins 21. Jahrhundert: den Brockhaus.
Das unvollständige „Conversationslexikon mit vorzüglicher Rücksicht auf die gegenwärtigen Zeiten“, seit 1796 von Renatus Gotthelf Löbel und Christian Wilhelm Franke verfasst und 1808 von Brockhaus ergänzt und herausgebracht, war das erste seiner Art. Deswegen schien es nötig, seine Funktion in einem Vorwort dem Leser zu erklären. Das Lexikon, so hieß es, solle „dem Weib wie dem Mann, dem Nichtgelehrten wie dem Gelehrten … eine Art von Schlüssel“ zur Verfügung stellen, „um sich den Eingang in gebildete Zirkel“ zu verschaffen.
Eine Beihilfe für Emporkömmlinge also. Allerdings war das Werk kein Geniestreich der Autoren. Sein Vorbild waren die „Zeitungslexika“ des 17. und 18. Jahrhunderts, die als Lesehilfe für „dunkle Wörter“ dienen sollten. Und die großen Universallexika der Zeit, die allein von ihrem Umfang, intellektuellen Anspruch und Preis her nicht für ein breites Publikum bestimmt waren.
Diese Verhältnisse durchbrach Brockhaus mit einer schlichten Rechnung: Von 100 Millionen deutschsprachigen Europäern sind 75 Millionen Frauen und Kinder, die entfielen ihm zufolge als Käufer. Von den restlichen 25 Millionen sollte jeder 25. – also die Bildungs- und Besitzbürger – ein Konversationslexikon kaufen. Diesen Markt wollte er erobern.
Drei Jahre nach dem Kauf des „Conversationslexikons“ verlegte Brockhaus sein Geschäft nach Altenburg, wo er die Konversationslexika druckte und vertrieb. Aus den zunächst sechs Bänden wurden schnell zehn. Bereits von der 5. Auflage (1818/20) verkaufte Brockhaus 32.000 Exemplare.
Der Erfolg des neuen Informationsmediums rief Konkurrenten auf den Plan: 1822 brachten Johann Friedrich Pierer und sein Sohn Heinrich August das „Encyclopädische Wörterbuch der Wissenschaften und Künste“ heraus, das im 19. Jahrhundert sieben Auflagen schaffte und dann vom Markt verschwand. Zu einem schärferen Konkurrenten wurden Joseph Meyer und Hermann Julius Meyer, deren „Großes Conversationslexikon für die gebildeten Stände“ mit 46 Bänden und 6 Ergänzungsbänden (1839–1852) das umfangreichste Werk bildet, von dem 200.000 Exemplare verkauft wurden. Bartholomä Herder schließlich war der dritte und kleinste Mitbewerber auf dem lukrativen Lexikonmarkt.
Die Konversationslexika sind aber auch die Folge eines konzeptionellen Scheiterns und einer Revolution des Wissens. Im sprichwörtlich enzyklopädischen 18. Jahrhundert wollte man das gesamte Wissen zusammenfassen. Aus diesem Geist umfassender Aufklärung entstanden die großen Enzyklopädien oder Universallexika. Johann Heinrich Zedler benötigte 22 Jahre (1732–1754) für die 68 Bände des „Großen vollständigen Universallexikons aller Wissenschaften und Künste“.
Denis Diderot und Jean Le Rond d’Alembert brachten die 35 Bände der „Enyclopédie ou dictionnaire raisonnédes sciences, des arts et des métiers“ (1751–1780) in 29 Jahren heraus, wobei der wichtigste Mitarbeiter meistens ungenannt blieb: Chevalier Louis de Jaucourt (1704–1780), von dem man fast nichts weiß und von dem kein Bild existiert, schrieb in den Bänden 3 bis 17 nachweislich 28 Prozent der Artikel, in den letzten Bänden rund 40 Prozent.
Als sie Zedlers „Universallexikon“ aktualisieren wollten, merkten die Lexikografen bald, dass sich das Wissen viel schneller vermehrte und veränderte, als sie arbeiten konnten. Erschien ein Band, war er naturwissenschaftlich, statistisch, technologisch und medizinisch bestenfalls auf dem Stand von vorgestern. Die „Deutsche Enzyklopädie“ (1778–1804) wurde deshalb nach dem 23. Band beim Buchstaben K abgebrochen. Das Projekt, alles gültige Wissen aktuell zu bündeln, erwies sich als unausführbar. Ebenso erging es der „Allgemeinen Enzyklopädie der Wissenschaften und Künste“ von Johann Samuel Ersch und Johann Gottfried Gruber, deren Unternehmen nach 71 Jahren 1889 mit insgesamt 167 Bänden beim Buchstaben P endete.
Einen Ausweg aus dem Dilemma bildeten fortan Spezial-Enzyklopädien zu nur einem einzigen Wissensgebiet. Johann Georg Krünitz sammelte das Wissen für seine „Oeconomische Encyclopädie“ von 1773 bis 1796, er verstarb beim Verfassen des Eintrags „Leiche“. Das Werk wurde 1858 mit dem 242. Band abgeschlossen. Die naturwissenschaftlich-technische Revolution machte also auch den Anspruch illusorisch, nur das gesamte Wissen der „Haus-, Land- und Staatswirtschaft“ zu ordnen. An die Stelle der Monumentalwerke traten Nachschlagewerke und Handbücher für relativ kleine Teilgebiete.
Einen anderen Ausweg boten die Konversationslexika, die weder den Anspruch erhoben, alles Wissen zu sammeln, noch gedachten, nur gesichertes Wissen zu präsentieren. Die Anfänge waren bescheiden, ja geradezu poetisch. 1819 lautete der erste Satz im Artikel „Polen“: „Ein Land, ein Volk und ein Staat, seit tausend Jahren fast nur durch Unglück denkwürdig“. Die Auswahl der Stichworte blieb hochgradig zufällig und die Behandlung des Stoffs eher kursorisch-assoziativ als wissenschaftlich orientiert. Vieles blieb mit Haut und Haaren dem jeweiligen Zeitgeist verpflichtet. Besonders deutlich wird das, wenn man die Artikel über „Frauen“ liest. Sie stürzen den heutigen Leser in einen Taumel zwischen Erheiterung und Trostlosigkeit. Für Jahrzehnte sind die Frauen „Repräsentanten der Liebe wie die Männer des Rechts“, dann ist der „Mann stark im Handeln, Mitteilen und Befruchten, das Weib im Dulden, Empfangen und Gebären“.
Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts versuchten die Konversationslexika, wissenschaftlich gesichertes Wissen in allgemein verständlicher Sprache zu vermitteln. Aktualität, Objektivität, Selektivität und Präzision sind die Grundanforderungen an jedes Lexikon. Die vier Anforderungen bergen jedoch zugleich die Grundprobleme jedes Unternehmens, weil sie schwer miteinander vereinbar sind: Der Anspruch, aktuell zu sein, kann die Objektivität gefährden. Die Auswahl tangiert die Aktualität und die Objektivität. Auch Präzision ist mit Objektivitäts- und Auswahlproblemen verknüpft.
Nach dem Zweiten Weltkrieg sind aus den Wissen popularisierenden Konversationslexika wissenschaftlich fundierte Nachschlagewerke geworden, die mehr Enzyklopädien des 18. Jahrhunderts gleichen als den ersten Konversationslexika. Der „Brockhaus“ hat dem Kriterium der Aktualität immer große Bedeutung eingeräumt. Aber noch die Erarbeitung der 19. Auflage dauerte volle acht Jahre, von 1986 bis 1994. Für die 20. Auflage wurden erstmals Computer und Datenbanken eingesetzt, was die Bearbeitungszeit auf dreieinhalb Jahre verkürzte. Die im Herbst 2005 erscheinende 21. Auflage wird 30 Bände umfassen und in der Rekordzeit von einem Jahr hergestellt.
Wissen vermehrt und verändert sich immer schneller. Die Arbeit am Wissen der Gegenwart gleicht deshalb einer permanenten Baustelle. Die Erfassung des Wissenswandels verlangt Antworten auf heikle Gewichtungs- und Wertungsfragen. Natürlich will ein heutiger Benützer wissen, was eine „CD-ROM“ oder ein „Carver-Ski“ ist. Andererseits kann ein Lexikon unmöglich alle technischen Neuerungen registrieren. Das Lexikon muss aus der Masse des täglich neu entstehenden Wissens das Wichtige auswählen, benutzerfreundlich ordnen und das veraltete Wissen so eliminieren, dass keine kulturellen Brüche entstehen. Auch die Spuren der Erinnerung an wissenschaftliche Irrtümer und Sackgassen dürfen nicht völlig gelöscht werden.
Noch vor fünf Jahren erklärte Dieter E. Zimmer, „gedruckte Enzyklopädien haben ausgedient“ (Zeit vom 10. 2. 2000) und setzte auf elektronische Lexika, die sozusagen stündlich aktualisiert werden könnten. Wie auf anderen Gebieten hat sich auch bei den Lexika die Cyber-Euphorie überlebt. Die berühmte „Encyclopaedia Britannica“ wollte 1999 den Druck des Werks einstellen, erschien aber nach einem kurzen Auftritt im Internet aktualisiert doch wieder gedruckt in 32 Bänden (2002/03).
Brockhaus wird die papierene Version des Lexikons nicht ersetzen, sondern durch medienspezifische neue Features auf DVD und Onlineportale ergänzen. Aber auch hier ist man vorsichtig geworden, denn alle Onlinedienste haben die „hohen betriebswirtschaftlichen Erwartungen (…) bis heute nicht erfüllt“ (schreibt Thomas Keiderling in der Firmengeschichte). Momentan erscheint der Trend für Nachschlagewerke im Internet eher rückläufig, weil die Finanzierung des Angebots durch Werbung nicht funktioniert. Die Befürchtung, den gedruckten Konversationslexika könnten es im neuen Jahrhundert untergehen, so wie sie Universalenzyklopädien Ende des 18. Jahrhunderts verdrängten, ist nicht akut.
RUDOLF WALTHER lebt als freier Autor in Frankfurt am Main