Stimmen zum 1. Mai: Brauchen wir den Tag der Arbeit?
Am 1. Mai demonstrieren seit über 200 Jahren Arbeiter für mehr Rechte. Ist dieser Gedenk- und Protesttag in der globalisierten Arbeitswelt noch zeitgemäß?
Maren Kroymann, 58, Kabarettistin und Schauspielerin: Der 1. Mai muss bleiben! Einer der wenigen deutschen Feiertage von internationalem Niveau, religionsunabhängig und sozial übergreifend. Oder? Jedenfalls mehr als zu den Zeiten, als er noch die schöne Bezeichnung "Kampftag der Arbeiterklasse" trug. Man muss es sich nur klarmachen. Leider ist mein kämpferischer 1.-Mai-Impuls inzwischen längst dem Bedürfnis nach Regeneration der Arbeitskraft gewichen - oder einfach auch von der Notwendigkeit, zu arbeiten, überrollt. Der alte Scherz "Wieso heißt das eigentlich ,Tag der Arbeit', wenn keiner arbeitet?", trifft die Sache jedenfalls nicht mehr.
Geschichte: Im Jahr 1856 streikten am 1. Mai in Australien zum ersten Mal Arbeiter für den Achtstundentag. Daran knüpfte die nordamerikanische Arbeiterbewegung 1886 mit einem Generalstreik an - am 1. Mai, ebenfalls um den Achtstundentag durchzusetzen. Bei der anschließenden mehrtägigen, gewalttätigen Auseinandersetzung zwischen Demonstranten und Polizei, die als "Haymarket-Riot" in die Geschichte einging, wurden mehr als 200 Arbeiter verletzt. 1889 rief die "Zweite Internationale Arbeiterbewegung" auf ihrem Gründungskongress den 1. Mai als weltweiten "Protest- und Gedenktag" aus. Am 1. Mai 1890 demonstrierten allein im Deutschen Reich 100.000 Arbeiter. Der Feiertag: Erst die Nationalsozialisten erklärten den 1. Mai 1933 zum "Tag der nationalen Arbeit", einem staatlichen Feiertag. Mit Gründung der Bundesrepublik wurde der 1. Mai als gesetzlicher Feiertag verankert. Auch in der DDR war der 1. Mai arbeitsfrei. Der Berliner 1. Mai: dient randalierwütigen Autonomen und Antifa-Mitgliedern seit 1987 als Anlass für "Revolutionäre 1.-Mai-Demonstrationen", also Autos anzuzünden und Kreuzberg zu verwüsten. Der Film: In "1. Mai" erzählen die Regisseure Sven Taddicken, Jakob Ziemnicki, Carsten Ludwig und Jan-Christoph Glaser vier Episodengeschichten vor dem Hintergrund des Berliner 1. Mai. Idee des Films war es, ein Gemeinschaftsprojekt unter Freunden und Gleichgesinnten zu realisieren, ein "sozialistisches Projekt", bei dem sich der "Tag der Arbeit" in Berlin-Kreuzberg anbot. "1. Mai" ist ab heute in den Kinos zu sehen.
Richard Weize, 62, "Bear Family Records", Musikverleger: Meinetwegen kann dieser Feiertag abgeschafft werden, wie alle Feiertage. Ich kenne keine Tage ohne Arbeit. Aber der 1. Mai ist natürlich besonders. Das ist der Tag der Arbeit - und den sollte man erhalten. Wer an diesem Tag nicht demonstriert, liegt auch nicht falsch: Muße tut auch gut.
Jürgen Tarrach, 47, Schauspieler: Der 1. Mai hieß ja schon mal anders: Unter der nationalsozialistischen Willkür wurde er missbraucht als "Tag der nationalen Arbeit" und mutierte damit zur Leistungsschau der deutschen Industrie. Bevor es den "Tag der Arbeit" gab, war er in den USA der "moving day", an dem traditionell die Verträge der Arbeiter verlängert oder gekündigt wurden und somit ein Arbeitsplatz- und Wohnungswechsel anstand.
Der 1. Mai ist demnach Sinnbild für den Kampf der rechtlosen Arbeiter für einen 8-Stunden-Arbeitstag und weiterer hart erstrittener Rechte. Letztlich ein letztes Gedenken an eine notwendige Solidarität mit allen Vernachlässigten, Ausgebeuteten, Rechtlosen in unserer Gesellschaft. Wenn nun der Wille zum Umtaufen des 1. Mai wiederauftauchen sollte, so hege ich den Verdacht, dass man diese Solidaritätskundgebung aus dem Bewusstsein unserer Gesellschaft löschen möchte, um dann ein Trugbild einer fröhlichen, zufriedenen, allseitig saturierten bundesrepublikanischen Realität zu zeichnen, in dem Kritik an den Zuständen nicht erwünscht ist. Also Finger weg vom 1. Mai, vom "Tag der Arbeit"!
Denn die Ungerechtigkeiten in unserer modernen Welt nehmen leider nicht ab. Gedenken wir der Arbeitslosen und ihrer Familien, die kaum mehr Aussicht auf eine lebenslange Beschäftigung haben. Die Arbeitslosigkeit gehört auch zum Tag der Arbeit, denn Arbeit wird kaum mehr gerecht zu verteilen sein. In unserer Spaßgesellschaft gibt es durchaus hart arbeitende Menschen, die viel zu wenig für ihre Leistung bekommen! Denken wir nur an das gesamte Personal unserer Krankenhäuser: die einfachen Ärzte und die Krankenpfleger! Eigentlich sämtliche Sozialberufe. Lehrer ist ein ebenso heruntergeredeter Beruf, den kaum mehr ein qualifizierter junger Mensch wählen möchte. Keine sehr gute Zukunft für die Ausbildung unserer Kinder!
Sicherlich ist der 1. Mai zeitweilig erstarrt in ritualisierte Gesten oder dient einigen weltfremden Spinnern, denen ihr eigenes Leben wohl zu langweilig geworden ist, zur Randale. Darüber hinaus werden wir aber, so fürchte ich, in nicht allzu ferner Zukunft, wieder sehr "lebendige" 1.-Mai-Feiern erleben, wenn die soziale Not immer größer geworden ist und sich dann die Börsenspekulanten an ihren Sushis den Magen verderben.
Christoph von der Deylen alias "Schiller", 37, Popmusiker: Der 1. Mai ist mir seit Langem eher ungelegen. Ich bin heute ganz überrascht, dass ich kaum proben kann. Für die "Schiller"-Tour müssten wir jetzt anfangen zu üben. Aber plötzlich heißt das: Brückentage. Niemand richtig da! Ich dachte: Warum das nicht? Aha, Feiertag, 1. Mai.
Früher ging es um den 30. April, da war Party. Aber der 1. Mai selbst war mehr so n Durchhängertag. Früher freiwillig, heute aber unfreiwillig. Ich würde lieber ganz regulär arbeiten. Selbstverständlich bleibt es aber schwierig, solche Feiertage zu kritisieren. Der "Tag der Arbeit" ist mir als Begriff viel zu abstrakt. Was soll das noch heißen? Etwa, dass gearbeitet wird? Mir wäre das recht, aber das geht leider nicht.
Detlev Buck, 45, Regisseur und Schauspieler: Gerade weil sich die Bedingungen laufend ändern, sollte man den Tag der Arbeit nicht abschaffen.
Benno Gammerl, 32, Max-Planck-Institut für Bildungsforschung: Als relativ neuer Berliner gehört der Kreuzberg-Besuch am 1. Mai für mich zum festen Programm, nachdem ich die Arbeiten erledigt habe, die bei flexibilisierten Wissensproduzenten und Unternehmern ihrer selbst auch am Feiertag der ArbeiterInnenbewegung nicht liegen bleiben dürfen. Bei dieser Tour mischen sich Ausflugsstimmungen und politische Bewegungen auf ganz spezifische und meist angenehme Weise. Der Tag soll bleiben.
Jan-Christoph Glaser, 32, und Carsten Ludwig, 38, Regisseure des Films "1. Mai": Der Tag der Arbeit sollte in ein riesiges Einweckglas gegeben und konserviert werden, damit nachfolgende Generationen einen Eindruck davon bekommen, wie es sich mit Deutschlands revolutionärem Potenzial Anfang des Jahrtausends verhalten hat.
Brigitte Hamann, 67, Historikerin ("Hitlers Wien", "Elisabeth - Kaiserin wider Willen"): Auf keinen Fall darf er abgeschafft werden - das ist ein politischer Feiertag, der ist erkämpft, und dieser freie Tag ist überhaupt nicht überflüssig. Lieber sollte man - wie es sie in Österreich oder in Bayern gibt - Feiertage katholischer Provenienz streichen - etwa Fronleichnam, Mariä Himmelfahrt oder den zweiten Pfingstfeiertag. Das weiß doch kein Mensch mehr, was diese Tage zu bedeuten haben, der 1. Mai aber erinnert an die Kraft der Arbeiterbewegung - und dies bleibt auch wichtig, allen modernen Arbeitsstrukturen zum Trotz.
Ulrich Dörrie, 49, Galerie Dörrie * Priess, Berlin und Hamburg: Ich respektiere den Feiertag, aber als freier Unternehmer, Galerist, der ich bin, sehe ich solche Tage nicht als Freiraum. Meine Arbeit geht auch an solchen Tagen immer weiter.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen