Stimmen Neue Hörbücher von Ernst Jandl und Sabina van der Linden-Wolanski: Ernste Themen, gefeierte Sprache
Unsere Ansichten gehen als Freunde auseinander.“ Die vermutlich kürzeste Definition von Demokratie ist nur eines der ins Schwarze treffenden Gedichte, die Ernst Jandl auf „Eile mit Feile“ vorträgt. Zum 90. Geburtstag des im Jahr 2000 gestorbenen Wiener Sprachkünstlers hat der Hörverlag den Live-Mitschnitt seiner Lesung in Oldenburg 1995 veröffentlicht. Man hört den damals 70-Jährigen mit dem Manuskript hantieren, das Mikrofon ploppt.
Jandl liest anarchisch Belustigendes wie „ottos mops“, das vom Publikum am meisten goutiert wird, wahrscheinlich auch, weil das Gedicht, in dem Jandl beim Vortrag jede Facette des Vokals O zelebriert, eines seiner bekanntesten ist. Ernste Themen gehören genauso zum Programm: Verse, in denen er mit herrisch-gewalttätiger Stimme Antisemitismus („d’oide antisemitin“ und Nazigewalt („zertretener mann blues“) bearbeitet, lassen Hörern und Publikum das Lachen im Halse stecken.
In „die kirche“ begegnet Jandl der Religion humorvoll respektlos und sein Vergnügen am Spiel mit Worten blitzt auf, mit deren Gebrauch er den Texten einen erweiterten, meist ketzerischen Sinn verleiht. Die der deutschen Sprache immanente Absurdität stellt er heraus mit Wortwiederholungen und Satzvariationen, die er mit zunehmend aufbrausender Stimme und Intensität vorträgt. „wien: heldenplatz“ ist eine rauschhafte Verhohnepipelung der deutschen Sprache, bei der man das Gefühl nicht loswird, dass hier Unsägliches gesagt wird. Und spätestens beim F-mit-W-Vertauschungs-Rap „eile mit feile“ zeigt sich, dass Jandl der beste Interpret seiner Texte ist. (Ernst Jandl, „Eile mit Feile“, Hörverlag, 1 CD, 76 Minuten, 14,99 €)
Drang nach Leben
„Der Drang nach Leben. Erinnerungen“ heißt die Autobiografie der Holocaust-Überlebenden Sabina van der Linden-Wolanski, die 2010 im Verlag der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas auf Deutsch erschienen ist. Geboren wird van der Linden-Wolanski als Sabina Hausmann 1927 in der polnischen Kleinstadt Borysław, die heute in der Ukraine liegt. Die Hausmanns sind wohlhabend, Berlin ist weit entfernt, der Ernst der Lage für die über 14.000 Juden der Stadt ist nicht abzusehen.
Als Borysław nach Kriegsbeginn von den Sowjets besetzt wird, verlieren die Hausmanns zunächst Freiheit und Eigentum, der deutsche Vernichtungskrieg gegen die Juden Borysławs beginnt mit der Übernahme der Stadt durch die Nationalsozialisten im Sommer 1941.
Sachlich beschreibt van der Linden-Wolanski die unbeschreiblichen Vorkommnisse, stets darauf bedacht, ihre persönlichen Erlebnisse mit denen der gesamten jüdischen Bevölkerung der Stadt in Deckung zu bringen. Zwischengestreute Tagebucheinträge werfen ein Licht auf den Gefühlskosmos eines Teenagers, der inmitten von Tod und Barbarei für Jungs schwärmt. Van der Linden-Wolanski kommentiert diese Einträge aus der Perspektive der Erwachsenen, lässt für sich Unangenehmes nicht aus, nimmt kein Blatt vor den Mund. Dagmar Manzel liest die Erinnerungen behutsam, teilweise mit brüchiger Stimme, aber nie pathetisch.
Van der Linden-Wolanski überlebt als einzige ihrer Familie, versteckt unter christlicher Identität bei verschiedenen christlichen Freunden, zeitweise auch in einem Erdloch im Wald. 1950 wandert sie mit ihrem Ehemann nach Australien aus, baut sich dort eine Existenz auf und beginnt erst in den 1990er Jahren, sich mit ihren Holocaust-Erlebnissen aktiv auseinanderzusetzen, wenngleich sie sie in ihren Alpträumen immer begleiten.
Sie hält Vorträge gegen Rassismus und Vorurteile und wird eingeladen, die Rede zur Einweihung des Holocaust-Mahnmals in Berlin im Mai 2005 zu halten. Diese hochgelobte Rede ist in deutscher Übersetzung und im englischen Originalton auf der CD enthalten, die der Audio Verlag anlässlich des zehnten Jahrestags der Einweihung des Mahnmals veröffentlicht hat und die man gehört haben sollte, weil die Autorin aus den vergangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit Lehren für uns in Gegenwart und Zukunft offeriert. (Sabina van der Linden-Wolanski, „Drang nach Leben. Erinnerungen einer Holocaust-Überlebenden“, 4 CDs, gekürzte Lesung, ca. 242 Minuten) Sylvia Prahl
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen