Steffen Klävers über Antisemitismus: Decolonizing Auschwitz?

Warum es nicht ausreicht, sogar gefährlich ist, Antisemitismus und den Holocaust „nur“ als Teil kolonialer Geschichte zu sehen.

Antisemitismusforscher Steffen Klävers im Zoom-Interview mit Anastasia Tikhomirova Foto: privat

Interview von ANASTASIA TIKHOMIROVA

taz am wochenende: Herr Klävers, bagatellisiert postkolo­nia­le Theorie die Schoah?

Steffen Klävers: Es gibt Tendenzen in der postkolonialen Theorie, welche die Spezifik des Antisemitismus nicht richtig erkennen. Man könnte von einer Bagatellisierung sprechen. Das geschieht meist dann, wenn ­Antisemitismus als Spielart, Unterform oder Variante des Rassismus begriffen wird, obwohl es signifikante Unterschiede in den Dynamiken und den ­Wirkungsweisen dieser beiden Ideologien gibt.

In dem Moment, wo Antisemitismus als Unterform des Rassismus und Rassismus als grundlegende Ideologie des Nationalsozialismus bezeichnet wird, gerät man an theoretische Probleme und Grenzen des Rassismus­konzepts.

Warum sollte denn von einer Singularität der Schoah gesprochen werden? Wieso kann es nicht in die Reihe kolonialer Verbrechen eingefügt werden?

Von einer bestimmten Art der Singularität. Viele Menschen denken, Singularität bedeute automatisch, dass ein Ereignis außerhalb der Geschichte steht oder eine vollständige Ausnahmeerscheinung ist. Ich finde beides problematisch. Der Aspekt der Unerklärbarkeit, der mit Singularität mitschwingt, mystifiziert das Ereignis.

Das ist sowohl für historische als auch politische Auseinandersetzung mit der Schoah und dem Nationalsozialismus eher hinderlich. Außerdem schwingt bei dem Begriff Singularität Unwiederholbarkeit mit. Die Möglichkeit, dass sich eine ähnliche Konstellation noch mal ereignen könnte, ist nicht auszuschließen. Ich verstehe den Begriff eher im Sinne von Präzedenzlosigkeit und qualitativer Beispiellosigkeit.

Das heißt?

Diese findet sich in der Spezifik des NS-Antisemitismus, der nicht nur Bestandteil, sondern Kernideologie des National­so­zia­lis­mus war. Dies zu einem Nebenschauplatz zu erklären, der nur in einen größeren Rahmen mit kolonialen Bezügen eingeordnet wird, wird der Eigenart des Nationalsozialismus nicht gerecht.

Also würden Sie die Behauptung zurückweisen, dass die Schoah eine Folgeerscheinung anderer kolonialer Verbrechen ist?

Ja, diese klare Verbindung gibt es nicht. Durch das Bestehen auf dieser Spezifik wird dennoch kein Vergleichsverbot aufgemacht. Es ist möglich über Kontinuitäten und Rassenkonzepte nachzudenken, die sowohl im Kolonialismus als auch im Nationalsozialismus in Wissenschaft und Politik verbreitet waren. Oder inwiefern sich Kolonialrassismus im Nationalsozialismus gegen Schwarze Menschen gerichtet hat. Das sollte aber nicht dazu führen, alles unter einem Begriff zusammenzufassen oder mittels biopolitischer Kategorien zu erfassen. Man sollte vermeiden, von einer starken kolonialen Qualität des NS zu sprechen, denn das war nicht das, was den NS per se ausmacht. Der NS war kein Kolonialregime, sondern hatte Antisemitismus als Kernideologie.

Wie kann man postkoloniale Forschung betreiben, ohne dabei selbst antizionistisch und antisemitisch zu werden?

Man sollte die Einwände der kritischen Antisemitismusforschung ernst nehmen: Antisemitismus stößt in den Definitionen von Kolonialrassismus, welche mehrheitlich in der postkolonialen Theorie verwendet werden, an seine Grenzen und lässt sich nicht mit der binären Logik erfassen.

Ich sehe in den letzten Jahren eine Tendenz hin zur Kritik daran, dass überhaupt zwischen Rassismus und Antisemitismus unterschieden wird. Das wissenschaftliche Ziel sollte sein, adäquate Beschreibungen für die Gegenstände zu finden. Antisemitismus hat eine Spezifik, die ihn vom Kolonialrassismus unterscheidet.

Das nicht zu sehen, ist ein wissenschaftliches Defizit, ein blinder Fleck. Natürlich ist es ein legitimes Anliegen, Kolonialgeschichte aufzuarbeiten, und ich glaube, dass die Aufarbeitung, die wir aktuell in der Bundesrepublik erleben, ohne den Einfluss postkolonialer Theorie in der Art nicht passiert wäre. Die hier genannten Probleme müssen jedoch ernst genommen werden – dann kann man schauen, wie man vielleicht zusammenarbeiten kann.

Decolonize Auschwitz: Wider und Für wird am 24. April 2021 um 16 Uhr Cornershop des taz lab gestreamt. Des gesamte Tagesprogramm finden Sie hier.