Außergewöhnliche Maßnahmen: Statt Jammertiraden: Geschichten aufspüren
■ betr.: „Gegen das Jucken hilft nur ein Joint“, taz vom 27. 9. 95 und taz-Abokampagne
[...] Die taz ist eine außergewöhnliche Zeitung, leider vermisse ich außergewöhnliche Maßnahmen, statt dessen in regelmäßigen Abständen jammernde Versuche, die Auflage zu steigern.
Der Grund mich aufzuraffen zu diesem Thema einen Brief an Euch zu schreiben, ist meine Sorge vor dem Ende der taz und mein inzwischen zum Glück beendeter Aufenthalt im Krankenhaus Moabit. Im Kiosk dieses Hauses habe ich mir als Abonnent jeden Morgen zusätzlich eine taz gekauft. Ich mußte sie selbst aus einem Ständer herausangeln, der in der hintersten Ecke mit jeweils drei Exemplaren bestückt war. Jeden Abend waren die beiden übriggebliebenen noch vorhanden.
Letzte Woche nun hattet Ihr einen ganzseitigen Artikel über einen Professor aus eben diesem Krankenhaus Moabit, der sich begrüßenswerter Weise für die Legalisierung von Cannabis einsetzt und die therapeutische Wirkung bei bestimmten Krankheiten beschreibt. Bei der wöchentlichen Chefvisite, die am gleichen Tag stattfand, an dem der besagte Artikel erschien, hielt ich dem Chef die taz unter die Nase und fragte ihn nach seiner Meinung, ebenfalls seine Unterärzte. Etwas verunsichert, aber über seinen Kollegen informiert, meinte der weiße Häuptling, diesen Artikel würde er gerne nach der Visite lesen, denn dem „Neuen“ gegenüber wären er und seine Mitarbeiter immer aufgeschlossen. Sprach's und erklärte sich mit den von seinen Assistenten für uns Patienten verschriebenen Muntermacher-, Blocker- und Betäubungspillen einverstanden und entschwand.
Ich ging mit der taz in den grauseligen Aufenthaltsraum und rauchte mir ein Röhrchen. Ich wurde von einem türkischen Mitpatienten als Drogenabhängiger erkannt, und nach einem austauschenden Gespräch bat er mich, ihm den (Euren) Artikel zu überlassen, den würde er sich gerne nach seiner Genesung zu Hause an die Wand hängen wollen.
Ich nehme mal an, so an die 1.000 Leute befinden sich täglich im Krankenhaus. Ihr bringt einen Artikel über einen seiner Professoren, der offensichtlich Mut hat zu anderen Therapien, die aufgrund auch meiner Erfahrungen positivste Wirkungen haben. Dieser Artikel ist gedruckt in einer im gleichen Krankenhaus erhältlichen Zeitung (drei Exemplare), herauszufischen zwischen einem Ständer mit Bananen und einem mit albernen T-Shirts.
Ich glaube, fast jeder, der hier geschätzten 1.000 Menschen im Krankenhaus, zuzüglich der Besucher, die den ganzen Tag über nichts anderes reden als über ihre Krankheit und deren Überwindung, hätte eine taz gekauft. An dem Tag hättet Ihr jemanden herschicken sollen mit genügend tazzen, und wäre es einer dieser ödlangweiligen Typen gewesen, die in den Kneipen versuchen, die Zeitung zu verkaufen. Sicherlich hätte der eine oder andere auch die taz abonniert, weil sie eine gute Zeitung ist und weil nicht alle Menschen blöd sind.
Also diese kleine Geschichte nur zur Information, von diesen kleinen Geschichten gibt es mit Sicherheit viele. Vielleicht solltet Ihr jemanden einstellen, einen Geschichtenaufspürer, der mit ein bißchen Phantasie gleichzeitig auch ein Geschichtenverwerter ist. [...] Nil Ausländer
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