■ Statistisches: Rund eine Million leben vergessen unter uns
Endstation: Alkohol, Drogen, Obdachlosigkeit. Die Wohlstandsgesellschaft steckt in der Krise. Wer sich den Leistungsanforderungen dieser Gesellschaft entzieht – bewußt oder unbewußt – oder ihnen in den Augen ihrer wärmsten Verfechter nicht gerecht wird, der hat versagt und wird wie ein Aussätziger behandelt. Was Wunder, daß sich kaum jemand um die wirklichen Arbeitslosen- und Obdachlosenzahlen schert: Wer weiß beispielsweise schon, daß die Arbeitslosenstatistik lediglich die Bezieher von Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe ausweist. Nicht mitgerechnet werden die vielen Langzeitarbeitslosen, die vom Sozialamt abhängig sind; nicht dazugezählt werden die Abertausenden „Asozialen“, die „Schwervermittelbaren“. Die offiziellen Zahlen aus Nürnberg erzählen also in schöner Regelmäßigkeit nur die halbe Wahrheit.Wen juckt's? Wer weiß denn schon, daß – vorsichtigen Schätzungen zufolge – in diesem noch reichsten Land der Welt eine Million Menschen Tag für Tag ihr Dasein auf der Straße, wenn sie Glück haben, unter Brücken fristen müssen.Niemand scheint sich dafür zu interessieren, was mit den Vergessenen mitten unter uns geschieht, obwohl doch seit Jahren Einrichtungen wie die Bahnhofsmissionen und die Caritasverbände feststellen müssen, daß längst nicht mehr nur Männer im Rentenalter von Armut und Obdachlosigkeit betroffen sind. Immer mehr Frauen, immer mehr Jugendliche und immer mehr Menschen mit guter Schulbildung fallen durch das sehr weitmaschig gewordene soziale Netz.Von den rund eine Million Menschen leben in ganz Deutschland – Ost wie West – über 200.000 direkt auf der Straße, davon etwa 16.000 in der Hauptstadt Berlin. 6.000 in der Hansestadt Hamburg und rund 4.500 in der Mainmetropole Frankfurt am Main, dem Wirtschafts- und Finanzmekka Europas. Die restlichen 800.000 Menschen übernachten irgendwo in kommunalen Unterkünften (300.000), in Heimen und Anstalten (200.000), in barackenähnlichen Übergangsunterkünften für Aus- und Übersiedler (100.000–200.000) und in Pensionen und Billighotels (100.000– 200.000).Eine weitere Million muß – rechnen kirchliche und andere caritative Organisationen vor – schon jetzt den Verlust der eigenen Wohnung befürchten – wegen überhöhter Mietpreise, wegen der berühmten „steigenden Lebenshaltungskosten“. Und nicht nur das: Ein erklecklicher Teil von ihnen muß seinen „Wohnungsbesitz“ mit unzumutbaren Hygiene- und Lebensverhältnissen erkaufen. Da leben sechsköpfige Familien in winzigen Zweizimmerwohnungen, aus denen es aus allen Ecken und Enden pfeift und deren Wände quadratmeterbreite Schimmelspuren ansetzen.
Die Bielefelder Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAW) schätzt die Zahl solch heruntergekommener, entwürdigender Bleiben sogar auf mindestens drei Millionen. All diese Statistiken basieren auf Schätzungen, in den meisten Fällen muß mit einer viel höheren Dunkelziffer gerechnet werden. Das Problem Armut wäre besser zu ermitteln, wenn der politische Wille dazu nicht fehlte. Die Stadt Frankfurt zum Beispiel wird seit Jahren von den sozialen Verbänden aufgefordert, einen offiziellen Armutsbericht zu erstellen. Um den hat sie sich aber bisher auch unter einem rot-grünen Magistrat erfolgreich herumgedrückt.Franco Foraci
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