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StandbildTelevisuelle Flaschenpost

■ Gorbatschow in Kluges Fenster: 10 vor 11, RTLplus, Mo., 23.05Uhr

Schauen wir in eine Programmzeitschrift, gleich welche, so ergibt sich der Eindruck, Alexander Kluges dctp-Kulturmagazin „10 vor 11“ laufe auf RTLplus nach „Auf Leben und Tod — Polizeiasse im Einsatz“ und vor „M — Männermagazin (Brüste und Pferdestärken)“. Doch dieser Eindruck täuscht. Was kein Zufall ist. Denn zu Beginn der 80er Jahre, also in grauer Vorzeit, wurde nämlich per Nordrhein-Westfälischem Rundfunk-Staatsvertrag festgelegt, daß der als Werbeumfeld geplante televisuelle Action-Striptease (RTLplus) nur auf den Äther gehen darf, sofern er ein sogenanntes Fenster bereithält, auf dem unabhängig produziertes Fernsehen gesendet wird. Zwar kann man Rundfunkstaatsverträge ändern. Doch solange dies nicht geschehen ist, ist auch der visuelle Hamburger (RTLplus) faktisch eine Teilmenge besagten (dctp-) Fensters, auch wenn die zeitliche Gewichtung Gegenteiliges erahnen läßt. Um ein derartiges publikationstechnisches Ungleichgewicht geht es auch in der aktuellen „10 vor 11“-Folge „Die Foros-Protokolle“. Foros ist der Name der Feriendatscha, auf der Michail Gorbatschow vor genau einem Jahr gefangen gehalten wurde. Als er im Fernsehen sah, wie der Putschist Janajew 186 Millionen Sowjet-TV-Haushalten erklärte, er, Gorbatschow, sei erkrankt, griff der suspendierte Präsident der damaligen Sowjetunion zur Heimvideokamera und fertigte Independent-Videos an.

Auf vier Magnetbändern stellte er der Nachwelt die Geschehnisse aus seiner Sicht dar. Das erste Band sollte sein Arzt, das zweite sein Berater durchbringen. Das dritte behielt Gorbatschow selbst, und das vierte sollte abenteuerlicherweise mit einem Ruderboot über das Schwarze Meer durch „geheime Kanäle“ (Gorbatschow) nach Griechenland geschafft werden. Welch eine skurrile Metapher die Wirklichkeit bereithält: Die Lüge kommt simultan über Satellit; die Wahrheit dagegen schwimmt in einer televisuellen Flaschenpost an gegen den Strom der Bequemlichkeit: Satellit gegen Ruderboot.

Zuschauer, die sich hierzulande weniger für Politik als für freie Meinungsäußerung („M — Männermagazin“) interessieren und sich zu früh zugeschaltet haben, müssen erstaunt gewesen sein. Statt entblößter Haut sah man zwei Frauen, Übersetzerin Rosemarie Thieze und Maja Turowska, die Gorbatschows Video kommentierten, bekleidet. Das Bild wirkt trotz seiner Farbigkeit monochrom. Es wird gesprochen über Dinge, die man schon einmal gehört hat, in einer Ernsthaftigkeit, die einen gelegentlich einholt, wenn der Fernseher aus ist. Eine für den Adressaten des RTLplus-Programms bedrohliche Situation. Manfred Riepe

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