■ Standbild: Symbiotische Beziehung
„Hitler und die Deutschen“, Sonntag, 23.00 Uhr, ARD
Ein Dokumentarfilm (sieben Kapitel, ebenso viele Autoren) entfernte sich erfreulicherweise ein Stück weit von den üblichen pädagogischen Exerzitien, wählte die essayistische Form, um sich vom Zwang zur Kohärenz zu befreien. Dennoch lag den Beiträgen ein gemeinsamer Nenner zugrunde: Hitler war nicht der Dämon, der über die Deutschen kam. Er saugte die Sehnsüchte und Hoffnungen der Deutschen auf, gewann seine endgültige Physiognomie erst in dieser symbiotischen Beziehung. Mindestens ebenso, wie er die Deutschen der dreißiger Jahre formte, wurde er von ihnen selbst geformt.
Nach dem Krieg aber wurde Hitler als Dämon konserviert, um die einst von ihm Besessenen, jetzt aber Geheilten zu entlasten. Bis in unsere Tage ist deshalb das Hitlerbild Ausdruck einer Mystifikation. Der Versuch, die Deutschen an die Zeit ihrer „Verstrickung“ zu erinnern, das psychologische Massen-„Syndrom“ aufzuklären, erzielte seine Wirkung freilich um den Preis einer gehörigen Portion Schematismus.
Umstandslos wurde die bündische Jugend zur Vorläuferin von Jungvolk beziehungsweise HJ, der preußische Militarismus zum Wegbereiter des nazistischen Kadavergehorsams stilisiert. Über das Verhältnis der Nazis zur Arbeiterschaft liegen zu viele detaillierte Untersuchungen vor, als daß man eine so geschlossene Zustimmung zum System behaupten könnte, wie der Beitrag „Arbeiter und Volksgenossen“ es tut.
Ihre stärksten Wirkungen entfalten die Essays dort, wo sie sich Zeit nehmen, die „Archetypik“ der Bilder zu untersuchen, den fatalen Analogieschlüssen von der Natur auf den Menschen (der deutsche Wald – der deutsche Mensch) nachzugehen. Auf beklemmende Weise wird sichtbar gemacht, wie der biologistische Kult vom Recht des Stärkeren allmählich eine ganze Generation durchdrang. Wenn auch die Essays die psychoanalytische Begrifflichkeit vermeiden: gezeigt wird Regression.
In Eingangs- wie Schlußessay unternimmt es Christian Feyerabend, das „gemachte“ Hitlerbild dem „wahren“, dem Bild des nackten Verbrechers, Feiglings, vom Morphium aufgeputschten Junkies gegenüberzustellen. Aber war Hitler nicht immer auch Arturo Ui gewesen, ein haltloser Abenteurer? Und wie, wenn man ihm nicht zuletzt gerade deswegen folgte? Christian Semler
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