■ Stahmers Rücksichten: Die Stadt gewinnen
Die Sozialdemokraten wollten im „Schlafwagen zur Macht“, höhnen und stöhnen die Kritiker. Die Spitzenkandidatin Ingrid Stahmer bleibe unsichtbar und konturenlos, sei ein Phantom, nicht aber eine im Stadtbild präsente Wahlkämpferin. Die Kritik ist in zweifacher Hinsicht falsch.
Niemand kann ernsthaft bestreiten, daß Ingrid Stahmer sich auf einer Vielzahl von Veranstaltungen – über 200 bis zum 22. Oktober – bis zur Belastungsgrenze zerreißt. Es sind freilich oft die falschen Termine, diejenigen an der politischen Peripherie, des öfteren an der Grenze der öffentlichen Wahrnehmung: ein Kongreß der Schuldnerberatungsstellen, ein Insidertreffen von Frauenexpertinnen, Bürgertreffen in den Bezirken oder eine SPD-Fachtagung Gesundheit – wo Stahmer vor wenigen Tagen gar als Moderatorin ranmußte. Vermißt aber wird, daß sie in den für die Stadt zentralen Fragen selber ein Ereignis ist, Position bezieht und das sozialdemokratische Profil schärft.
Ebenso unwahr ist die Behauptung, die SPD habe angesichts ihrer dem Amtsinhaber Eberhard Diepgen hinterherhechelnden Herausforderin bereits aufgehört zu kämpfen und richte den Blick nicht auf den Gegner, sondern widme sich – siehe den SPD-internen Knatsch um das Schiller Theater – wieder den innerparteilichen Hakeleien.
Eine solche Interpretation setzt voraus, die Partei wisse, wofür sie kämpft. Manchmal kann man daran zweifeln. Aus dem Team der Spitzenkandidatin wird darauf verwiesen, daß ähnlich wie in Bremen auch die Berliner SPD nahezu gleich stark geschieden ist in jene, die rot-grün wollen, und jene, die gerne die Große Koalition weiterführen möchten. Dies erklärt die merkwürdige Lähmung und Unentschlossenheit im Stahmerschen Wahlkampf.
Den von der Partei wegen seiner eigenmächtigen Positionierungen ungeliebten Momper als Negativ-Schablone vor Augen, verordnet sich Ingrid Stahmer den starren Blick auf alle inneren Regungen der Partei. Was der selbstherrliche Momper an Profilierungsdrang zuviel besitzt, verbietet sich Stahmer fast gänzlich. Auch deshalb erscheint der eigenmächtige Momper gegenwärtig viel klarer konturiert als die Spitzenkandidatin. Ihre Rücksichtnahme auf die Partei hindert sie, Politik für die ganze Stadt zu machen. Gewinnen muß sie aber am 22. Oktober die Berliner Bevölkerung, nicht die 22.000 Berliner GenossInnen. Ingrid Stahmer ist Spitzenkandidatin; dieses Privileg und Recht muß sie wahrnehmen.
Rücksichten auf die Partei darf sie sich derzeit nicht leisten. Wer mit bräsiger Selbstgefälligkeit meint, an der SPD vorbei könne in Berlin sowieso keine Regierungsbildung stattfinden, könnte für diese Behäbigkeit eine böse Quittung kassieren. Geht die Wahl verloren, werden die Sozialdemokraten sowieso über Stahmer ein Scherbengericht veranstalten – egal, wie sehr die Kandidatin jetzt auf die Partei Rücksicht nimmt. Gerd Nowakowski
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