: Städter im Wahllokal - Bauern in der Kneipe
Die Wahlen in Polen waren nicht arm an Skurrilitäten / Wähler wurden durch überklebte Wahlplakate erfolgreich verwirrt / Mit der Mistgabel aus dem Wahllokal vertrieben / Erschöpfte Wahlhelfer feiern den überwältigenden Sieg von Solidarnosc ■ Von Aneta Krawczykm
Tschenstochau (taz) - Freudentränen flossen, Sektkorken knallten, die WahlkämpferInnen in der Wahlkampfzentrale von Solidarnosc in Tschenstochau fielen sich am frühen Montag morgen erschöpft in die Arme: Der überwältigende Wahlsieg der polnischen Opposition zeichnete sich jetzt ab. Ein Wahltag voller Aufregungen und Skurrilitäten liegt hinter dem Land, in dem die letzten freien Wahlen vor über 40 Jahren stattfanden.
Daß es hoch hergehen würde am Wahltag, kündigte sich bereits am Samstag an. Aus Mangel an Unterstützung von Seiten des gemeinen Volkes sieht sich die lokale Staatsmacht in Gestalt des Schuldirektors und des ersten Parteisekretärs persönlich veranlaßt, des Nachts die örtlichen Straßenlaternen zu erklimmen und ein überdimensionales Plakat für den Senatskandidaten Bilik daran zu befestigen.
In Tschenstochau ziehen die Jungs und Mädels des nach wie vor nicht legalisierten Studentenverbandes NZS los, um Biliks Plakate zu verunstalten. Biliks Mannschaft ist jedoch auf eine noch bessere Idee gekommen. Statt die Solidarnosc -Werbung abzureißen, kleben gesetzte Herren mittleren Alters des Nachts einfach Biliks Porträt unter die Solidarnosc -Plakate. Und tatsächlich gibt es dann am nächsten Tag viele ältere Leute, die Bilik wählen, weil sie Solidarnosc unterstützen wollen.
Irgendwann in dieser Nacht treffen beide Gruppen aufeinander, und da sich herausstellt, daß Biliks Wahlhelfer auch einige Geheimpolizisten an Bord ihres Wagens haben, entwickelt sich eine ungleiche Verfolgungsjagd: Die Studenten im klapprigen Fiat 126 sehen sich gezwungen, vor dem mit 80 PS bewehrten Auto der Polizisten in den wald zu fliehen.
Als der Wahltag dann morgens um sechs Uhr mit der Öffnung der Wahllokale beginnt, wird das Stadt-Land-Gefälle so richtig deutlich: In der Stadt stehen die Leute vor den Wahllokalen Schlange, auf dem Dorf vor den Kneipen. Die Begeisterung für Schnaps, dessen Ausschank an diesem Tag verboten ist, scheint größer zu sein als für die Demokratie. Die „Melinas“ - Schwarzbrennereien - laufen offenbar auf Hochtouren.
In den Wahllokalen Unsicherheit: Wie streicht man einen Kandidaten aus, quer oder längs? Manche wissen auch nicht einmal wo. Eine alte Frau stürmt in die Wahlkampfzentrale von Solidarnosc in Tschenstochau: „Ich bin seit acht Jahren Solidarnosc-Anhängerin, jahrelang hab‘ ich auf diesen Moment gewartet, jetzt gebt mir schon eine Wahlkarte.“ Wahlkarten gibt's im Wahllokal, erklären ihr die schon jetzt übermüdeten Wahlhelfer.
Nach und nach werden die ersten Anekdoten erzählt wie in Gidle, einem Dorf bei Tschenstochau. Von dort wird ein ernster Fall von Wahlsabotage gemeldet: Ein wütender regierungstreuer Bauer treibe die Wähler mit einer Mistgabel aus dem Wahllokal. In der Gemeinde N. berichtet der Vertrauensmann von Solidarnosc in der Wahlkommission, seine Kollegen von der Partei hätten versucht, ihn zu kaufen, um anschließend die Stimmen auf ihre Weise zu zählen: „Aber da hab‘ ich auf den Tisch gehauen.“
In Kamenice Polska erklären die Kommissionsmitglieder, die Landeswahlkommission hätte verfügt, nach Schließung der Wahllokale müßten die Solidarnosc-Vertrauensleute das Lokal verlassen. Ein heftiger Protest ist die Folge, sie dürfen auch zum Stimmenzählen dableiben.
Viele Leute auf dem flachen Land sind unsicher, haben sich noch nicht daran gewöhnt, daß Solidarnosc erlaubt ist. Den Fremden, die Ergebnisse einsammeln, begegnen sie mit Mißtrauen und offener Abneigung, halten sie für Parteispitzel. In der Wahlkampfzentrale in Tschenstochau ist die Spannung indessen so groß, daß Pani Agatha jedesmal in Tränen ausbricht, wenn eine neue Meldung kommt.
Überall erzielen die Kandidaten von Solidarnosc Ergebnisse, von denen sie nicht einmal geträumt haben. Und zugleich wird immer sicherer, daß die Landesliste, mit deren Hilfe die Staats- und Parteiführung gehofft hatte, zu einer demokratischen Legitimierung zu kommen, wohl komplett durchgefallen ist.
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