Stadtmitte: Berlin tut nicht gut
■ Die alltägliche Gedankenlosigkeit gegenüber Rollstuhlfahrern
Eigentlich müßte ich als Rollstuhlfahrer ja dankbar sein, wenn hin und wieder gute Taten an mir verübt werden. Aber das Stillhalten fällt mir immer schwerer, denn hintenherum tut Berlin gar nicht gut.
Um auf den Bahnsteig der S-Bahn am Alexanderplatz zu kommen, muß ein Heizungstechniker vom S-Bahnhof Friedrichstraße geholt werden, denn nur der hat eine Lizenz zum Aufschließen der Aufzugstür und zum Drücken der beiden Knöpfe. Kürzlich hat das geschlagene 45 Minuten gedauert. „Gedankenlosigkeit“ der Organisatoren?
In der jüngsten Informationsbroschüre der BVG, gültig seit 23.Mai 1993 („Berlin im Takt“), sucht man vergeblich nach Hinweisen, welche Buslinien rollstuhlgerecht sind. „Gedankenlosigkeit“ der Verantwortlichen?
Am Vatertag wollte ich vom Interconti aus den „behindertengerechten“ Bus der Linie 109 (Airport) benutzen. Vier Busse habe ich ausprobiert. Bei allen war die „behindertengerechte“ Technik defekt. Es waren die Busse mit den Nummern 2189 (Abfahrt 13.16 Uhr), 2286 (13.31Uhr), 1099 (13.46 Uhr) und 1006 (14.01 Uhr). „Gedankenlosigkeit“ des Wartungspersonals?
In der Ausstellung „Amerikanische Kunst im 20. Jahrhundert“, von Lotto mit über 5,5 Millionen DM gefördert, ist das „Herzstück“ der Ausstellung, der Lichthof, für Kunstfreunde im Rollstuhl nicht zugänglich. Eine bei früheren Ausstellungen montierte Rampe und ein elektrischer Treppenlift stehen ungenutzt im Keller herum. „Gedankenlosigkeit“ der Ausstellungsmacher?
Auch nebenan im neuen Abgeordnetenhaus werden wohl „Gedankenlosigkeiten“ für die Diskriminierung von Behinderten herhalten müssen. Über 160 Millionen DM soll der Umbau gekostet haben, aber nicht eine Tür ist vom Rollstuhl aus zu öffnen. Nicht einmal die Tür der „Behindertentoilette“ kann ohne fremde Hilfe von innen zugemacht werden. Und die am Tag der offenen Tür verschlossene Zuschauertribüne soll nach Auskunft des Aufsichtspersonals nur über eine kleine Treppe zu erreichen sein, für Rollstuhlfahrer also nicht.
Spätestens bei der Toilettenfrage aber kann auch der Gutwilligste nicht mehr an „Gedankenlosigkeiten“ glauben. Überall dort, wo das vielbeschworene „Leben in der Gemeinschaft“ stattfindet, also dort, wo man zusammenkommt, wo gegessen und getrunken wird, fehlen sie. Zufall?
Das Vorwort der Sozialsenatorin, Frau Ingrid Stahmer (SPD), zu den „Leitlinien zum Ausbau Berlins als einer behindertengerechten Stadt“ spricht Bände. Stolz bezeichnet sie es dort als einen „erstaunlichen Fortschritt“, daß die Zahl der behindertengerechten öffentlichen Toiletten sich seit 1987 auf derzeit 34 mehr als verdoppelt hat. Bei einer Fläche Berlins von rund 884 qkm ist das eine Toilette auf sage und schreibe 26 Quadratkilometer! Olympia 2000 hin, Paralympics her, ich finde, eine solche Stadt kann man der Weltöffentlichkeit nicht zumuten.
Es gibt landesrechtliche Gesetze und Verordnungen, die bei Publikumsverkehr das Vorhandensein von Toiletten zwingend vorschreiben. In ganz Berlin gibt es daher von den rund 9.000 Gaststätten, Kneipen usw. keine einzige, die nicht mindestens eine Toilette für Frauen und eine für Männer hat. Für die über 350.000 Schwerbehinderten, davon rund 120.000 Gehbehinderte und mehr als 20.000 Rollstuhlfahrer, gibt es aber in ganz Berlin nur eine Handvoll Gaststätten mit einer passenden Toilette. Mir sind ganze drei bekannt.
Wenn der Senat von Berlin von seinen rechtlichen Möglichkeiten, die er hat, einseitig nur zugunsten von Nichtbehinderten Gebrauch macht, nicht aber in gleicher Weise für Behinderte, dann kann das nur heißen, daß Behinderte nach Meinung des Senats in Gaststätten, Kneipen oder vergleichbaren Einrichtungen nichts zu suchen haben. Wäre er anderer Meinung, könnte er es ändern. Klaus Fischbach
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