■ Stadtmitte: Vor Entsolidarisierung wird gewarnt
Vor Entsolidarisierung wird gewarnt
Die kurz nach dem Einigungsprozeß begonnenen und mit Rostock und den nachfolgenden Ereignissen ihren — wie zu befürchten vorläufigen — Höhepunkt erreichende Entwicklung hat unter den EmigrantInnen einen Schock verursacht. Es sind aber nicht nur die Jagdszenen aus (Ost)- Deutschland alleine, es ist auch die sehr oft gemachte Erfahrung, daß deutsche KollegInnen, NachbarInnen, mit denen bis jetzt ein — scheinbar — gutes Verhältnis gepflegt wurde, nun auch — zurückhaltend ausgedrückt — Vorbehalte gegen ImmigrantInnen äußern, es ist die doppelt so hohe Arbeitslosigkeit unter ImmigrantInnen im Vergleich zur allgemeinen Arbeitslosenquote, es ist die Angst der Eltern über eine Radikalisierung ihrer Töchter und Söhne, und die, je näher man sich damit befaßt, je offener erkannte Tatsache, daß die Heimat, in die man sich zurückziehen zu können glaubte, eben die ehemalige Heimat ist, welche in vielen Fällen nicht einmal eine Perspektive für den Lebensabend bietet. Wie gehen wir damit um? Wie weit gedeihen in einem solchen Klima Entsolidarisierungstendenzen? Entsolidarisierung als Reaktion auf Gruppendiskriminierung ist sicherlich eine Erscheinung, die in solchen Fällen zunimmt, dafür gibt es auch historische Beispiele. Unter ImmigrantInnen gibt es sie auch, nicht erst seit Hoyerswerda oder Rostock. Ich kann mich an viele Gespräche erinnern, wo ImmigrantInnen, die aus türkischen Großstädten nach Berlin gekommen waren, sich über diejenigen ausließen, die aus ländlichen Gebieten gekommen waren und hier durch ihr »bäuerliches« Verhalten auch dem »Ansehen« der anderen schadeten.
Während meiner Tätigkeit in einer Beratungsstelle für Schulfragen erlebte ich ähnliches im Zusammenhang mit dem Paragraphen 35a des Berliner Schulgesetzes, der besagt, daß in einer Schulklasse höchstens fünfzig Prozent ausländische SchülerInnen sein dürfen, der Rest in sogenannten Ausländerregelklassen unter sich zu sein hat Auch hier gab es unter den ImmigrantInnen Eltern, die sich massiv über diese Diskriminierung beschwerten, dann aber nachfragten, ob, wenn schon ihre Kinder von den deutschen getrennt werden, nicht die Kinder dieser oder jener Nationalität aus den Klassen ihrer Kinder herausgenommen werden könnten.
Und auch die Diskussion über Flüchtlinge wird unter ImmigrantInnen seit Anfang der achtziger jahre so geführt, wie die »deutsche« Öffentlichkeit sie führt, mit all den Ängsten, Anfeindungen und auch Widersprüchen. Die Meinung, Flüchtlinge würden die Arbeitseinwanderer gefährden, wird schon mal geäußert. Ob bei einer Abstimmung über seinen Erhalt der Artikel 16 des Grundgesetzes unter ImmigrantInnen mehr Chancen hätte als bei einer Abstimmung unter den wahlberechtigten BürgerInnen dieses Landes, möchte ich bezweifeln. Es sollte aber nun nicht zur journalistischen oder sonstigen Gewohnheit werden, die vermeintlichen oder tatsächlichen Entsolidarisierungserscheinungen unter ImmigrantInnen zum Hauptdauerthema zu machen. (Ich befürchte bereits eine Projekt-, Untersuchungsberichte und Bücherflut zum Thema.) Warum sollen sich ImmigrantInnen anders/besser verhalten als andere Gruppen in ähnlicher Situation — und es ist ja nun nicht so, daß diese Tendenz zur Zeit das Verhalten der ImmigrantInnen prägt. Entsolidarisierung ist eine Erscheinung unter anderen.
Und nicht jede Diskussion über Einwanderungsregelungen und -begrenzungen ist ein Ausdruck von Entsolidarisierung — genausowenig, wie sie ein Ausdruck von Ausländerfeindlichkeit ist. Auch der Bund der EinwanderInnen aus der Türkei (BETB) plädiert für die Trennung der politisch Verfolgten von Bürgerkriegs- und Armutsflüchtlingen. Er fordert zeitweiliges Bleiberecht für Bürgerkriegsflüchtlinge und jährliche Einwanderungsquoten für Armutsflüchtlinge bei Erhalt des individuellen Rechts auf politisches Asyl. Ich meine, die eigentliche Gefahr ist nicht die Entsolidarisierung unter ImmigrantInnen, sondern die Entsolidarisierung unter den von der sozialen und wirtschaftlichen Talfahrt Betroffenen — wie bereits in Rostock und anderswo.
Der Autor ist Vorsitzender des Bundes der EinwanderInnen aus der Türkei (BETB). Dies ist der Dachverband von 16 Einzelorganisationen und zahlreichen Einzelpersonen in Berlin.
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