piwik no script img

■ StadtmitteKirchenbesucher als Brückenbauer

Ein Fest sollte es werden. Ein Fest der Begegnung zwischen Menschen und Kulturen, Hautfarben und Nationalitäten, Religionen und Eßgewohnheiten. Und es sollte stattfinden in der Mitte von Berlin. Da, wo der Prenzlauer Berg wieder auf die ebene Erde kommt und eine Kirchenruine mahnt: nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus, nie wieder die totale Herrschaft des Menschen über den Menschen. Es kamen Muslime und Katholiken, Juden und Baptisten, Protestanten und Hindus. Menschen, die sich auf keine gemeinsame Sprache einigen konnten und sich doch verstanden.

Der Kirchensaal war aus Mangel an Heizung kalt geblieben, aber der Raum, den er bot, führte Menschen zusammen. Das war auch schon vor Jahren so. Die Kirche bot das Dach, damit Menschen unter ihm Schutz fanden. Und das ist auch heute so und muß auch weiter so bleiben: die Kirche als offener Raum für Menschen, die Schutz, Verständigung und Verständnis suchen. Vor allen Diskussionen über den Artikel, der das Gastrecht gewährt, muß die Bereitschaft dasein, es zu praktizieren. Die offene Kirche ist nicht eine Frage des Raumes, sondern der Einstellung. Wir kommen aus einer Tradition, in der wir erlebt haben, daß Tausende von der Gesellschaft und der Ideologie gefürchtete Jugendliche in einem Kirchenraum Platz fanden, ohne daß Kronleuchter durch die Luft flogen oder Kanzeln brannten. Er vermittelt angenommenes Menschsein wie von selbst. Es gibt keinen Menschen, der nur deshalb, weil er anders ist, auch anders behandelt werden müßte. Es gibt auch keinen für uns abgeschlossenen Pachtvertrag, für eine rechtmäßige Nutzung von wahrem Menschsein. Die Offenheit gewährt Recht auf jedes Leben. Sie vermittelt die Bestätigung, nicht abseits zu stehen. Auch nicht durch Beurteilungen.

Denn wir reden, um uns verständlich zu machen, schon wieder von Rechten, Linken, Autonomen, Chaoten, Verrückten und teilen Menschen nach Gesinnung und Verhalten, Rasse und Abstammung. Aber die Klassifizierung von Menschen zum Zwecke der Beurteilung zeugt von eigener Schwäche. Denn wer Menschen einteilt und danach bewertet, hält sich selber heraus. Was uns heute durch Menschen an Gewalttätigkeiten und unverständlichen Parolen begegnet, ist nicht das Anzeichen eines plötzlich wieder erwachenden Faschismus. Es ist das Zeichen von ungelebtem Leben als Folge einer Gesellschaft, die mit dem „sozial“, „demokratisch“ und „christlich“ nicht zurande kommt. Ich stelle mir manchmal vor, daß jeder Steinewerfer, Brandleger oder Farbbeutelwerfer das Kind zweier Eltern ist. Das Kind von Eltern, die das nicht vermitteln konnten, was sie vielleicht selber nicht wußten: gelebtes Leben.

Und wer Leben nicht leben kann, wird schnell heimatlos. Wir ehemaligen DDR-Bürger kommen aus einer heimatlosen Tradition. Weder das Land noch die Ideologie, noch die täglich erlebte Schizophrenie waren Angebote, Heimat zu finden. Die Produkte erschrecken uns heute, und wir tun gerne so, als hätten wir damit nichts zu tun. Auch zu DDR-Zeiten hat es die heimatlose Generation gegeben, den Radikalismus, die Gewalt und die beschmierten Grabsteine. Nur wurde es besser verdeckt. Aber wer Augen hatte, der konnte es auch schon vor 1989 sehen.

Um so mehr müssen wir heute Phänomene öffentlich machen, Vergangenheit beschreiben, Kindheiten darstellen. Wer seine Vergangenheit nicht annimmt, ist dazu verurteilt, sie zu wiederholen. Und wir sind auf dem besten Weg. Außer dem Weg in die Zukunft müssen wir uns den Blick in die verdrängte Vergangenheit leisten.

Die gegenwärtigen Szenen auf unsere Straßen und vor den Wohnheimen sind nicht Ausdruck einer neuen alten Gesinnung. Sie sind vielmehr der Ausdruck einer tiefen Unfähigkeit, die Brücke von einem ungelebten Leben in der Vergangenheit zum lebenswerten Leben heute zu bauen. Neben der Gewährung von Freiheit und einem offenen Raum könnte uns Kirche heute eine wesentliche Stütze sein, um wieder Brücken zu bauen. Martin-Michael Passauer

Der Autor ist Superintendent und Pastor der evangelischen Sophien- Kirche in Ostberlin.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen